Israel vor den Neuwahlen

Rechts ohne Ultraorthodoxe

Die Koalitionsverhandlungen in Israel endeten mit einer Absage des ehemaligen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman an die von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu geplante Sechsparteien­koalition. Jetzt muss erneut gewählt werden.

Benjamin Netanyahu hatte es wieder einmal geschafft. Aus den Wahlen zur 21. Knesset am 9. April war seine Partei Likud – wenn auch recht knapp – als Siegerin hervorgegangen. 1 140 283 Israelis hatten der Partei ihre Stimme ­gegeben, so viele wie noch nie bei einer Wahl in Israel. Am 19. Juli wird Netan­yahu wohl einen weiteren Rekord brechen. Dann könnte er als der Ministerpräsident in die Geschichtsbücher eingehen, der das Land länger regiert haben wird als Staatsgründer David Ben-­Gurion und damit jeder andere israelische Politiker zuvor. Doch dass ihm an diesem Tag wirklich nach Feiern zumute sein wird, darf bezweifelt werden – schließlich steht er derzeit ohne Mehrheit und ein funktionierendes Kabinett da. Am 17. April hatte Staatspräsident Reuven Rivlin Netanyahu offiziell mit der Bildung einer Regierung beauftragt, doch nach Ablauf der gesetzlichen Frist von sechs Wochen konnte dieser keine Regierung präsentieren.

»Statt sich der Aufgabe zu widmen, den Charakter Israels als jüdischen Staat zu bewahren, wollen sie ihn in eine Theokratie umwandeln.«

Kurz vor Ablauf der Frist am 28. Mai hatte der ehemalige Verteidigungs­minister Avigdor Lieberman Netanyahu eine Absage erteilt, weil er befürchtete, dass eine Einigung zwischen Netanyahu und den beiden Parteien der Ultra­orthodoxen einen ohnehin schon unbefriedigenden Kompromiss in der ­Frage der Wehrpflicht junger religiöser Männer weiter untergraben würde. »Statt sich der Aufgabe zu widmen, den Charakter Israels als jüdischen Staat zu bewahren, wollen sie ihn in eine Theokratie umwandeln«, ließ Lieberman bereits während der Koalitionsgespräche verlauten. Daran wolle er sich nicht beteiligen. Seine Partei Israel Beitenu, die in der Knesset fünf Sitze hat, war für die geplante Sechsparteienkoalition aber notwendig, um eine Mehrheit von 65 von 120 Abgeordneten zu erreichen.

Es war Netanyahu, der Lieberman 1993 in den Likud geholt und ihn dort aufgebaut hatte. Der gebürtige Moldawier Lieberman gründete 1999 mit Israel Beitenu seine eigene Partei. Nach seiner Absage wird es nun ernst für Netanyahu. Dieser wollte eine Sechsparteienkoalition auf ein neues Gesetz einschwören, das Parlamentsabgeordneten rückwirkend Immunität verleihen sollte – aus durchaus persönlichen Gründen, denn die Generalstaatsanwaltschaft bereitet gegen Netan­yahu gerade Anklageschriften in drei Fällen wegen ­Bestechlichkeit, Betrug und Untreue vor. Ende September soll er zu einer ersten Vorladung vor Gericht erscheinen. Während Netanyahu immer wieder von einer »Hexenjagd« gegen ihn spricht, die völlig unbegründet sei, trieb diese Gesetzesinitiative, wie zuletzt am 25. Mai in Tel Aviv, Tausende aus Protest auf die Straße. Eine Große Koalition mit dem zentristischen ­Listenbündnis Blau-Weiß, das am 9. April ebenso wie der Likud 35 Mandate ­erhalten hatte, würde das Immunitätsgesetz nicht unterstützen. Genau deshalb kam eine solche Koalition für Netanyahu nie in Frage – also blieb ihm nur die Ausrufung von Neuwahlen für den 17. September.

Ungewöhnlich dünnhäutig für einen Medienprofi wie Netanyahu und geradezu erratisch fielen seine ersten Reaktionen auf die Absage Liebermans aus. Erst sagte er, dass Lieberman jetzt wohl ein »Linker« sei, was allgemein für Heiterkeit sorgte. »Im Vergleich zu Lieberman und seiner absoluten Rücksichtslosigkeit wäre Netanyahu dann wohl Mutter Teresa«, schrieb Gideon Levy, alles andere als ein Freund des Ministerpräsidenten, in Haaretz, und weiter: »Wenn Lieberman links sein soll, dann ist Netanyahu ein ›Breaking the Silence‹-Aktivist.« Besagte NGO beschäftigt sich mit Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee.

Stunden vor Ablauf der Frist am 28. Mai hatte Netanyahu sogar Avi Gabbay, den Vorsitzenden der Arbeits­partei, kontaktiert und ihm den Posten des Finanzministers angeboten, wenn er statt Lieberman in die Koaltition einträte. Über die verzweiflelten Versuche Netanyahus, auf Biegen und Brechen eine Koalition auf die Beine zu stellen, machte sich Ayman Odeh vom arabischen Parteienbündnis Hadash-Ta’al lustig: »Auch ich habe eine Anfrage von Netanyahu erhalten. Er versprach mir ein Ende der Besatzung, wenn meine Partei seiner Koalition betreten würde.«

Lieberman ist ein Politiker, der vor allem polarisiert. Nun will er sich offenbar als Verteidiger der säkularen Israelis darstellen, die von den Gängelungen durch die Ultraorthodoxen mehr als genug haben, und sich so neue Wählergruppen erschließen. Sein bisheriges politisches Geschäftsmodell als Stimme der russischstämmigen Israelis funktioniert umso weniger, je mehr diese im israelischen Mainstream aufgehen. Die »ethnische Karte« verspricht kaum noch Erfolg. 2009 hatte Israel Beitenu 15 Sitze in der Knesset, derzeit sind es fünf. Von einer Vendetta mit Netanyahu will Lieberman allerdings nichts wissen. »Wir sind definitiv für eine rechte Regierung«, sagte er am Sonntag dem Fernsehsender ­Kanal 12. »Dabei ist es mir völlig egal, wer diese anführt. Aber ich will keine ultraorthodoxe Regierung.« Bemerkenswerterweise brachte er sich in dem ­Interview gleich selbst als geeigneten Ministerpräsidenten ins Spiel. »Wenn wir genug Sitze in der Knesset erhalten, werden wir darüber nachdenken.«

Unabhängig von seinen persönlichen Ambitionen hat sein Verhalten in den vergangenen Tagen das über viele Jahre gepflegte Konzept Netanyahus, aus taktischen Gründen die Ultraorthodoxen beschwichtigend und entgegenkommend zu behandeln, gründlich durcheinandergebracht. Über die Folgen kann nur spekuliert werden. Wenn ­Lieberman nach dem 17. September erneut als Mehrheitsbeschaffer von ­Netanyahu benötigt werden sollte, wären die jüngsten Ereignisse wohl für beide kein Grund, es nicht doch erneut miteinander zu versuchen.