Proteste in Hongkong

Geliehene Zeit in Hongkong

Die Massenproteste in Hongkong richten sich in erster Linie gegen die Integration der ehemaligen britischen Kronkolonie in die Volks­republik China. Doch diese wird sich kaum aufhalten lassen.

Die derzeitigen Proteste in Hongkong erweisen sich als die wichtigsten in der sogenannten Sonderverwaltungszone seit 2014, dem Jahr des Aufstiegs und Falls der »Regenschirmbewegung«. Am Sonntag gingen fast zwei Millionen Menschen – Hongkong hat rund 7,5 Millionen Einwohner – gegen ein Vorhaben der Regierungschefin Carrie Lam auf die Straße. Sie will, sicherlich unter dem Einfluss der chinesischen Regierung, ein Auslieferungsabkommen mit dem übrigen Chnia schließen; derartige Abkommen bestehen bereits mit vielen Ländern, einschließlich den USA. Auf den ersten Blick scheint es sich um ein vernünftiges Ansinnen zu handeln, nicht zuletzt, weil die Hafenstadt Hongkong seit jeher ein Versteck für verschiedene Menschen und Dinge ist, die mit dem Gesetz in Konflikt stehen –vom Whistleblower Edward Snowden über etliche gewaschene ­auf Vermögen aus Korruption und Diebstahl bis hin zu Vermögen aus gerad­liniger kapitalistischer Ausbeutung aus der ganzen Welt.

Die Demonstrierenden wollen die volle Autonomie, die ihrer Meinung nach die Miniverfassung der Stadt, das »Basic Law«, verspricht.

Der Gesetzesentwurf stieß jedoch auf heftigen Widerstand der Bevölkerung. Die erste Kundgebung dagegen zog Hunderttausende Menschen an. Die zweite Demonstration nur wenige Tage später verhinderte die Diskussion der »Verordnung über flüchtlige Täter« im Parlament und endete mit Ausschreitungen. Lam ließ denEntwurf ändern. So versuchte sie, die Unabhängigkeit der Hongkonger Gerichte zu wahren und den naheliegenden Verdacht abzuwehren, das Gesetz könne gegen Dissidenten und bekannte Regimekritiker angewendet werden. Doch diese Anpassungen kamen zu spät. Am Samstag setzte Lam den Gesetzgebungsprozess vorerst aus. Tatsächlich sind die Gesetzesdetails für die Mehrheit der Gegnerinnen und Gegner irrelevant. Diese widersetzen sich der Festlandintegration als solcher.

Für Hongkonger Verhältnisse – es handelt sich im Allgemeinen um eine unglückliche, aber friedliche und ­äußerst sichere Stadt – war die Reaktion der Polizei auf Wasserflaschen sowie einige Ziegelsteine werfende Demons­trierende und deren Weigerung, den abgesperrten Bereich in der Nähe der Regierungsgebäude zu verlassen, extrem. Die Beamten setzten Gummi- und bean bag-Geschosse sowie Tränengas ein. Der Einsatz von Pfefferspray hatte 2014 der Regenschirmbewegung, die sich gegen die chinesische Bevormundung bei der Vorauswahl der Kandidatenwahl für die Wahl des Verwaltungschefs Hongkongs richtete, großen ­Zulauf beschert. Mit Regenschirmen hatten sich die Demonstrierenden ­damals gegen das Pfefferspray gewehrt.

Nach der Demonstration am Sonntag entschuldigte sich Lam am frühen Abend öffentlich für den Versuch, das Gesetz durchzusetzen – eine bemerkenswerte Wendung und ein großer Erfolg der Protestbewegung. Allerdings könnte ein geändertes Auslieferungsgesetz im nächsten oder übernächsten Jahr verabschiedet werden. Die prochinesischen Parteien haben im Parlament die Mehrheit, und die anderen Parteien werden wahrscheinlich nicht ihre frühere Macht zurückgewinnen, um ständig Regierungsinitiativen hinauszuzögern. Die Zivilgesellschaft in Hongkong ist stark, aber wie anderorts ist ihre Macht begrenzt, Veränderungen zu bewirken. Zugleich kann die Regierung von Hongkong, die von einem Komitee des Volkskongresses in Peking gewählt wird, mit Protesten schlecht umgehen und versteht die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung kaum. Sie scheint ebenso außerstande zu sein, Veränderungen herbeizuführen.

Die Sonderverwaltungszone Hongkong ist eine Art winziger Staat, der auf der Idee einer liberalen beziehungsweise libertären Regierung beruht, die so klein wie möglich sein soll, um die individuelle und unternehmerische Freiheit zu maximieren. Es ist ein gescheiterter und dysfunktionaler Staat, der die Menschen ­weder durch Umverteilung und Sozialleistungen (wie etwa in ­Singapur oder bestimmten Sektoren Chinas) integriert noch vom ökonomischen Aufstieg Chinas profitieren kann.

In Hongkong herrscht politischer Stillstand. Vielleicht werden die bemerkenswerten Proteste ihn beenden. Aber was die derzeit Demonstrierenden ebenso wie die von 2014 wollen, ist die volle Autonomie, die ihrer Meinung nach die Miniverfassung der Stadt, das Basic Law, verspricht. Doch das trifft nicht ganz zu; es handelt sich um ein mehrdeutiges und widersprüchliches Dokument, das Mitte der achtziger Jahre aus chinesisch-britischer Diplomatie geboren wurde. Es garantiert auch die Souveränität Chinas und die endgültige Kontrolle des Wahlprozesses. Hongkong soll sich 50 Jahre lang nicht ändern, auch wenn jedes Jahr Zehntausende Menschen vom Festland einwandern. Das Basic Law proklamiert »ein Land, zwei Systeme«, auch wenn neue Gesetze und Entwicklungsprojekte eingeführt werden – als ob man Autonomie und nationale Souveränität, einen extremen freien Markt, Kapitalismus und einen ewigen Status quo von 1997 zugleich haben könnte.

Anders ausgedrückt: Das alte Sprichwort von Hongkong, das unter den Briten »in geliehener Zeit lebt«, war nie wahrer als unter dem Basic Law. Doch dieses und die Inkohärenz der Regel werden nicht ewig gelten. Die wenigsten Einwohner sind mit einer starken Verbindung zum Festland aufgewachsen. Die meisten Menschen in Hongkong hegen keine sonderlich großen Sympathien für das übrige China und wissen nur wenig über das ­restliche Land, insbesondere in politischer und kultureller Hinsicht – das gilt auch umgekehrt.

Die Integration wird auf die eine oder andere Weise erfolgen. Sie geschieht bereits, meistens, aber nicht ausschließlich, zum Nutzen der Reichen und der Nomenklatur der Börsen und Banken. Lam hat vielleicht nicht die das Ende des Sonderstatus eingeläutet, aber zumindest einen Schritt in diese Richtung vollzogen.