Zurück in den Krieg

Mit gutem Gewissen abschieben

Unionspolitiker wie Bundesinnenminister Horst Seehofer wollen mehr Menschen nach Afghanistan und Syrien abschieben. Dort drohen den Geflüchteten Gewalt und Obdachlosigkeit.

Vor knapp einem Jahr freute sich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) über ein ganz besonderes Geschenk. Auf einer Pressekonferenz sagte er am 10. Juli 2018: »Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 (…) Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.« Aus Sicht vieler Kritiker Seehofers lag diese Äußerung auch weit über dem, was bisher an öffentlich ­geäußerter Freude über Abschiebungen in ein Bürgerkriegsland üblich war. Beides – sowohl die Zahl 69 als auch die Abschiebungen nach Afghanistan – spielte in der vergangenen Woche bei der halbjährlichen Innenministerkon­ferenz (IMK) eine wichtige Rolle.

Horst Seehofer berief sich auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amts, wonach sich die Situation in Afghanistan verbessert habe.

Seehofer hatte auf die Tagesordnung des Treffens mit den Landesinnen­ministern in Kiel einen Antrag gesetzt, nicht mehr nur bestimmte Personengruppen nach Afghanistan abzuschieben, sondern alle Ausreisepflichtigen. Derzeit gilt noch ein Abschiebestopp – jedoch nicht für Straftäter, sogenannte Gefährder und Menschen, die ihre Hilfe bei der Identitätsfeststellung verweigern. Seehofer berief sich in seinem Antrag auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amts, wonach sich die Situation in Afghanistan verbessert habe.

Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl widersprechen dieser Darstellung. Die islamistischen Taliban brächten immer mehr Gebiete des Landes unter ihre Kontrolle. Fast 4 000 Zivilisten seien im vergangenen Jahr bei Anschlägen und bewaffneten Auseinandersetzungen gestorben. Zudem drohe vielen Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr die Obdachlosigkeit. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnte »vor umfassenden Abschiebungen« nach Afghanistan.

»Es gibt eine klare Linie innerhalb der Bundesregierung, wonach nach ­Afghanistan abgeschoben werden kann«, sagte Seehofer während des Treffens. »Ich möchte alle Länder dazu aufrufen, dies zu tun.« Sein Aufruf stieß allerdings nicht auf ungeteilte Zustimmung. Die SPD-geführten Länder und Schleswig-Holsteins Innenminister Hans-Joachim Grote (CDU) wollen an ihrer Praxis festhalten, lediglich Straf­täter, »Identitätstäuscher« und sogenannte Gefährder dorthin abzuschieben. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) sagte: »Afghanistan ist kein Land, in das zum jetzigen Zeitpunkt mit gutem Gewissen unbescholtene Menschen oder Familien mit Kindern abgeschoben werden können.« Offen blieb jedoch, warum es »mit ­gutem Gewissen« möglich sein soll, andere Personengruppen nach Afghanistan abzuschieben – unter anderem Menschen, denen die Sicherheitsbehörden lediglich unterstellen, schwere Straftaten begehen zu wollen.

Zu den Unterstützern von Seehofers Antrag zählte der sächsische Innen­minister Roland Wöller (CDU). Er forderte zudem, den Abschiebestopp nach Syrien einzuschränken. Für Straftäter, »Identitätstäuscher« und sogenannte Gefährder sowie »Anhänger des Assad-Regimes« sollte er nicht mehr gelten. Das Bundesinnenministerium wurde von der Konferenz aufgefordert, ein Konzept zur Umsetzung dieser Forderung vorzulegen; bis dahin solle der Abschiebestopp nach Syrien weiter­gelten.

Unter anderem wegen solcher Positionen wählte die aus Flüchtlingen ­bestehende Organisation »Jugendliche ohne Grenzen« Wöller zum »Abschiebeminister 2019«. Wöller erhielt knapp 41 Prozent der Stimmen, gefolgt vom bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) mit rund 24 Prozent. Letzterer hatte im Bayerischen Rundfunk ebenfalls Abschiebungen nach Syrien gefordert: »Es geht vor allem darum, dass Leuten, die beispielsweise ­Anhänger des Assad-Regimes waren und sind und hier in Deutschland schwere Gewalttaten verüben, dass man solchen Leuten klar sagt: ›Ihr müsst wieder nach Damaskus zurückkehren.‹«

Für mehr Abschiebungen könnte auch ein Vorhaben zur Bekämpfung sogenannter Clan-Kriminalität sorgen. Seehofer versprach seinen Amtskollegen aus den Bundesländern, »im Falle ­einer nachgewiesenen Mitwirkung bei Clan-Kriminalität den von den Ländern gewünschten Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft bei Vorhandensein einer weiteren Staatsbürgerschaft schnell zu realisieren«. Betroffene könnten dann möglicherweise dazu gezwungen werden, Deutschland zu verlassen. Das Grundgesetz verbietet bislang den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, der prinzipiell nur durch ein eigenes Gesetz möglich wäre, sofern Betroffene dadurch nicht staatenlos würden.

Bereits vor dem Innenministertreffen hatte eine Meldung des Redaktionsnetzwerks Deutschland für Diskussionen gesorgt. Demnach sollen Polizei und Gerichte auf zusätzliche Daten aus sogenannten Smart-Home-Geräten wie »Alexa« zugreifen dürfen. Spiegel Online bezeichnete die Meldung jedoch als »überspitzt«, da es schon jetzt möglich sei, zahlreiche Daten zu verwenden; neue Befugnisse seien nicht geplant. Stattdessen gehe es darum, die großen Datenmengen besser zu ver­arbeiten.

Zudem stand wieder einmal der Fußball auf der Tagesordnung. Schon vor einem halben Jahr hatten sich die Innenminister mit möglichen Gefängnisstrafen für den Einsatz von Pyrotechnik beschäftigt. Nun sollen die Vereine ihre Bemühungen verstärken, Pyrotechnik und Gewalttäter gar nicht erst in die Stadien hineinzulassen. »Da darf man von den Vereinen schon mehr erwarten«, ließ sich Seehofer zitieren. Welche Maßnahmen konkret geplant beziehungsweise gewünscht sind, ist bislang nicht bekannt. Die Mehrheit der Innenminister hat sich außerdem erneut dagegen ausgesprochen, die Fußballclubs an den Kosten von Polizeieinsätzen zu beteiligen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im März entschieden, dass das grundsätzlich möglich ist. Die besondere Rechtfertigung dafür liegt dem Gericht zufolge darin, dass »die Polizei einen erheblichen Mehraufwand ­gerade aus Anlass einer kommerziellen Hochrisikoveranstaltung betreiben muss«.

Nachdem es in den vergangenen Monaten immer wieder Berichte über rechtsextreme Polizisten und die Nähe einiger Beamter zur Szene der »Reichsbürger« gegeben hatte, sah sich die IMK dazu veranlasst, auch über dieses Thema zu reden. Erst am Mittwoch vergangener Woche waren in Mecklenburg-Vorpommern vier aktive beziehungsweise ehemalige Mitglieder des Spezialeinsatzkommandos der dortigen Landespolizei festgenommen worden. Sie sollen Munition vom Landeskriminalamt gestohlen haben, auch ein Maschinengewehr wurde gefunden. ­Einer der Männer habe Kontakt zu der rechtsextremen »Prepper«-Gruppe »Nordkreuz«, hieß es von der Staatsanwaltschaft.

Pistorius bezeichnete eine »Zuverlässigkeitsprüfung« als Möglichkeit. Es wäre dann länderübergreifend erlaubt, auf von Verfassungsschutzämtern ­gespeicherte Daten über Bewerber zuzugreifen. Außerdem sollen Verbreitung und Besitz von Kinderpornographie härter bestraft, Mitgliedern ver­fassungsfeindlicher Organisationen nach Möglichkeit die Waffenerlaubnis verweigert und bundesweit Waffenverbotszonen eingeführt werden.

Unter dem Motto »Gegen Repression, Rechtsruck und autoritäre Formierung« demonstrierten nach Angaben der Organisatoren etwa 1 000, laut Medienberichten circa 700 bis 900 Menschen gegen die IMK. An der Demons­tration ­beteiligten sich unter anderem Antifaschisten und Fans des Fußball­vereins Holstein Kiel. Das Bündnis »NoIMK« bewertete die Demonstration als Erfolg, kritisierte jedoch den Polizeieinsatz: »Die ungewöhnlich hohe Anzahl an Einsatzkräften, die eingesetzten Mittel und die brutalen Festsetzungen am Ende der Demonstration ver­anschaulichten einmal mehr, wie sehr für den Staat Einschüchterung, Unterdrückung und ­Repression die Mittel der Wahl sind.«