Aufbruch im Nahen Osten

Vom Verschwinden des Kopftuchs

In atemberaubendem Tempo verschwinden im Nordirak die Kopftücher. Frauen erobern sich unaufhaltsam den öffentlichen Raum. Sie haben genug von Moralwächtern und Tugendterror.

Wenn langersehnte Veränderungen im Nahen Osten kommen, dann oft unerwartet und plötzlich. Jahrelang fragt man sich, warum denn nichts passiert und verliert fast jede Hoffnung. Ein Mitarbeiter der UN erklärte mir dieses Phänomen anhand eines Beispiels. Es sei wie beim Chlorinieren, meinte er, man schüttet Chlor in ein Glas und nichts passiert, das Wasser bleibt verkeimt, und dann plötzlich ist es desinfiziert. Niemand könne genau den Punkt voraussagen, nur sei bekannt, wenn man nur genügend Chlor verwende passiere es irgendwann.

Straßenszene in Suleymaniah.

Bild:
Thomas v. der Osten-Sacken

In den letzten Jahren scheint im Nahen Osten ein solcher Punkt erreicht, in fast atemberaubendem Tempo verschwinden etwa in Irakisch-Kurdistan die Kopftücher und Frauen erobern sich langsam aber scheinbar unaufhaltsam den öffentlichen Raum. Ist das wirklich so oder nur Wunschdenken, fragt man sich dann. Nein, ist es nicht, antworten Bekannte und Freunde, da geschehe gerade etwas, die junge Generation habe die Nase voll von Ideologien, Moralwächterei und Tugendterror und wolle jetzt endlich leben. Und nicht nur ich beobachte die Veränderung in Kurdistan, auch die Journalistin Judith Neurink, die lange im Nordirak lebte und jetzt aus Bagdad berichtet, schreibt von ganz ähnlichen Beobachtungen aus der irakischen Hauptstadt:

„Da der ‚Islamische Staat‘ verdrängt und die gegenwärtige politische Stabilität zu spüren ist, fordern irakische Frauen immer mehr ihren Anteil am öffentlichen Raum der Stadt. In Mansour, dem Stadtviertel, in dem sich La Femme befindet, sind die meisten Cafés und Restaurants heute gemischt, und auch Frauen rauchen dort Wasserpfeife. Der frische Wind des Wandels hat auch das Straßenbild verändert. Frauen kleiden sich wieder bunter, anstatt sich hinter schwarzen Schleiern zu verstecken. Die Entwicklung geht so weit, dass junge Frauen sich immer seltener ein Kopftuch umbinden; wie Adel-Abids Tochter Mays tragen sie lieber Jeans – und dazu kein Tuch. (…)

Eltern verstehen, dass ihre Kinder mehr Freiheit brauchen, sagt [Hanaa Edwar, eine angesehene Aktivistin, die die Amal Association im Irak leitet], was dazu geführt hat, dass das Publikum in Cafés, aber auch die Workshops, die ihre Organisation durchführt, immer gemischter werden. ‚Eltern erlauben ihren Töchtern, jetzt allein nach Basra oder Erbil zu reisen.‘ Früher wären sie immer von ihrem Vater oder einem Bruder begleitet worden. ‚Während des Kampfes gegen den IS sahen wir junge Männer und Frauen, die sich zusammenschlossen, um Zivilisten zu unterstützen‘, erzählt sie. ‚Heute spielen Frauen wieder in Theatern, ohne dass dem große Beachtung geschenkt würde. Sie sprechen in der Öffentlichkeit – zum Beispiel gegen Zwangsverheiratungen. Sie brechen die Mauern ein und beginnen sogar, die Stammestraditionen zu erschüttern.‘“

Straßenszene in Suleymaniah.

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Thomas v. der Osten-Sacken

In Suleymaniah sind heute Szenen selbstverständlich, die noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen wären, auch wenn die zweitgrößten Stadt Irakisch-Kurdistan traditionell als recht liberal und weltoffen gilt. Bis lange nach Mitternacht sind Cafés, vor allem halboffizielle Straßencafés, rammelvoll und fast überall ist das Publikum inzwischen gemischt. Auch Gruppen junger Frauen, die alleine ausgehen gehören inzwischen ins abendliche Stadtbild. Kaum noch eine unter dreißig Jahren trägt Kopftuch und selbst wenn, so im lockeren iranischen Stil, wie es hier heißt, keineswegs wie ein islamisches Uniformstück gebunden. Und auch Kopftücher halten nicht vom Ausgehen ab. Niemanden scheint es mehr groß zu interessieren, was wer trägt, die Zeiten von Kulturkampf auf Kosten von Frauen scheinen sich im Gegenteil ein wenig ihrem Ende zu nähern.

Frauen in ärmellosen Sommerkleidern wirken heute weit weniger exotisch als Salafisten in ihrer vollen Montur, die man, anders als noch in den 90er Jahren, so gut wie gar nicht mehr sieht. Die jungen Männer auf den Straßen geben sich vielmehr äußerst modebewusst, legen Wert auf ihre Kleidung und eine Haarstransplantation, damit die Mähne auf dem Kopf möglichst dicht ist, gehört fast zum guten Ton. Auch Nasenoperation werden im Akkord durchgeführt, fast ein wenig stolz tragen unzählige Männer ihre Pflaster auf der Nase durch die Gegend. Zugleich berichten Frauen, dass dumme Anmache auf der Straße nachgelassen habe und man jetzt nicht mehr als Frau alleine unterwegs Spießruten laufen würde. Ja selbst ein paar Transvestiten gibt es inzwischen in Suleymaniah, die in der Öffentlichkeit weitgehend unbehelligt bleiben.

Die Dekaden der Depression, in denen eine destruktive Ideologie die andere ablöste, gehen ihrem Ende entgegen.

Zu der allgemeinen Stimmung passen jüngst in der ganzen arabischen Welt durchgeführte Umfragen unter Jugendlichen, in denen sich immer mehr dazu bekennen areligiös zu sein und die insgesamt von weit größerer Toleranz sprechen, als es sie noch vor ein paar Jahren gab. Vielleicht sollte man deshalb angesichts der Entwicklung von einem Anfang eines Endes sprechen, als zu sehr in Euphorie zu verfallen. Es scheint, die vergangenen Dekaden, die den Nahen Osten in eine Depressionslandschaft verwandelt haben, in denen eine destruktive Ideologie die andere ablöste und für individuelle Freiheiten kein Platz war, gehen – wenn auch langsam – ihrem verdienten und lang ersehnten Ende entgegen. Etwas Neues entsteht, noch nur auf der Straße und nicht politisch repräsentiert, denn an der Hebeln der Macht sitzen fast überall noch Vertreter der Generation „Alter Naher Osten“, aber eines Tages werden auch sie ihre Plätze räumen müssen.

Straßenszene in Suleymaniah.

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Thomas v. der Osten-Sacken

Aber früher, ich höre schon den Einwand, bevor die Islamisten so stark wurden überall, da gab es doch auch schon all die Frauen ohne Kopftuch in Damaskus, Kairo, Bagdad und Teheran – was also soll neu sein? Richtig, damals pflegte eine kleine Mittel- und Oberschicht irgendwie einen „westlichen Lebensstil“, auch wenn sie sich politisch eher antiimperialistisch gab. Die breite Mehrheit aber lebte äußerst traditionell und schon im Armenviertel oder nächstem Dorf gehörten etwa Kopftücher zur Normalität. Es gab genau diese Trennung zwischen „westlich“ und „traditionell“, die später zu viel Unheil führte, als die Islamisten ihren Aufstand gegen die Verwestlichung begannen und viele aus Armenviertel und der Provinz für ihr Anliegen gewinnen konnten.

Heute sind es junge Frauen aus allen Schichten, die sich da abends auf der Straße treffen und wohl keine würde ihr Aussehen als westlich bezeichnen. Es ist so normal, wie die kurdische Tracht, die ihr Großvater vielleicht noch trägt. Und das ist einer der Unterschiede zu damals: Man schaut nicht mehr nach Paris oder London und kopiert den dortigen Lebensstil. Schließlich gibt es all die internationalen Modeketten inzwischen auch hier in den beliebten Shopping-Malls, für eine neue Jeans oder das schicke Kleid braucht niemand mehr ins Ausland zu fahren. Man kleidet sich, wie man mag, und das eine ist so „kurdisch“ oder „irakisch“ wie das andere, nicht Ausdruck einer spezifischen Weltanschauung, der man – oder die Familie – anhängt. Es geht eben nicht mehr so sehr um die großem Ideologien, seien es nun Nationalismus, Panarabismus oder Islamismus, die jahrzehntelang auch das private Leben dominiert haben.

Straßenszene in Suleymaniah.

Bild:
Thomas v. der Osten-Sacken

Das alles bedeutet nicht, die Probleme mit denen Frauen zu kämpfen haben, seien plötzlich verschwunden. Ob Gewalt in der Familie, Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat, um nur die schlimmsten Beispiele zu nennen, existieren weiter und verschwinden, wenn nur sehr langsam. Aber sie erscheinen der Mehrheit nicht mehr als unhinterfragbare Tradition oder religiöse Gebote und neuerdings herrscht ein, vielleicht etwas übertriebener Optimismus, dass man solche Relikte der Vergangenheit bald wird überwunden haben.

Derweil treibt die jungen Frauen in Suleymaniah ein ganz anderes Problem um. Noch ist es ein Tabu, einfach von zu Hause auszuziehen, bevor man verheiratet ist. Aber früh heiraten möchten inzwischen ganz viele nicht mehr und unterscheiden sich darin grundlegend von ihren Eltern, bei denen es noch üblich war sich spätestens mit Mitte zwanzig trauen zu lassen. Das zwingt sie allerdings, weiter zu Hause wohnen zu müssen eben unter Aufsicht genau dieser Eltern. An Auszug ist erst zu denken, nachdem man unter der Haube ist. Viele träumen davon, sich einfach mit Freundinnen eine Wohnung zu mieten, aber da stehen strenge gesellschaftliche Konventionen noch hindernd im Weg.

Was in Istanbul, Ankara und in Ausnahmen auch einigen arabischen Hauptstädten inzwischen möglich ist, bleibt hier auf absehbare Zeit wohl nur ein Wunsch und so zeigen sich im Alltag auch die Grenzen der neuen Freiheit  schnell auf. Der Tag, an dem junge Frauen – und nicht nur Witwen oder Geschiedene – endlich alleine wohnen können, meint deshalb auch eine Journalistin, wird wie eine Revolution sein. Dann nämlich könne man endlich beginnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und auch heiraten, wen und wann man wolle.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch