04.07.2019
Deutsche Asylpolitik und ihre Folgen

Lieber Suizid als Abschiebung

Die Zahl der Suizidversuche unter Asylbewerbern in Deutschland steigt. Wenn Geflüchete gegen ihr Schicksal protestieren, müssen sie mit Repressionen rechnen.

»18. April 2018: Justizvollzugsanstalt Bre­mervörde im niedersächsischen Landkreis Rotenburg an der Wümme. An der Tür des Nassbereichs seiner Zelle erhängt sich ein irakischer Flüchtling mit seinen Schnürsenkeln. Er wird erst gefunden, nachdem die Leichenstarre bereits eingesetzt hat. Der psychologische Dienst hatte zuvor eine Suizidabsicht verneint. Der Mann hinterlässt sieben Kinder im Alter von elf bis 15 Jah­ren.« Zahlreiche solcher Meldungen über Selbstmorde oder Selbstmordversuche von Flüchtlingen finden sich in der 26. Ausgabe der Dokumentation »Bun­desdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«, die kürzlich von der Antirassistischen Initiative (ARI) in Berlin herausgegeben wurde, herunterladbar unter www.ari-dok.org.

Die regelmäßigen Abschiebungen nach Afghanistan sorgen in der Öffentlichkeit kaum noch für Aufmerksamkeit. Für die Geflüchteten sind sie eine Quelle der Angst.

Elke Schmidt begann das Projekt 1993 mit einer Mitstreiterin. Damals hat­te sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI gewandt. Die Organisation forschte nach und fand heraus, dass er mit acht anderen Tamilen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken war. Seither sam­melt das kleine Team Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik stehen. Alle veröffentlichten Meldungen werden von mindestens zwei Quellen gestützt. Die Recherche ist für das Team häufig schwierig, weil die Polizei und andere Behörden oft nicht besonders auskunftsfreudig sind. Nach Schmidts Angaben hat sich die Zahl der Suizide von Flüchtlingen in den vergangenen Jahren auf durchschnittlich etwa 30 im Jahr erhöht, Suizidversuche und Selbstverletzungen gibt es jährlich etwa 400. Von 1993 bis 2018 wurden 288 Selbsttötungen von Flüchtlingen registriert.

Im Fokus der neuen Ausgabe des Berichts steht die steigende Zahl von Suizidversuchen, die eine Folge der verschärften Flüchtlingspolitik ist. So sorgen die regelmäßigen Abschiebungen nach Afghanistan in der Öffentlichkeit kaum noch für Aufmerksamkeit. Für die Flüchtlinge aber sind sie eine Quelle von Ängsten, die mit Schlafstörungen, Nervosität und anderen gesundheitlichen Problemen verbunden sind.

Die neue Dokumentation beginnt mit dem Selbstmord des 22jährigen Tahir I. am 2. Januar 2018. Der junge Afghane stürzte sich aus dem zweiten Stock der Sammelunterkunft im Landkreis Kelheim in Niederbayern. Kurz zuvor war sein Asylantrag abgelehnt worden, eine Arbeitserlaubnis hatte er auch nicht erhalten.

In der Dokumentation wird aber auch ausgeführt, was geschieht, wenn Flüchtlinge sich zusammenschließen und Abschiebungen, Razzien und anderen Schikanen nicht einfach widerstandslos hinnehmen. Zahlreiche Beispiele zeigen, wie die Rechte der Geflüchteten dann erheblich beschnitten werden.

So rückte die Polizei am 14. März 2018 zu einem Großeinsatz im Flüchtlingsheim in Donauwörth in Bayern ein. Einige Stunden vorher hatte die Abschiebung eines gambischen Asylsuchenden nach Italien abgebrochen werden müssen, weil sich einige Bewohner vor dem Gebäude versammelt hatten. Die Polizei wertete das als Widerstand gegen die Abschiebung; die Flüchtlinge hingegen gaben an, sie hätten wegen eines Feueralarms ihre Zimmer verlassen. Bei der Razzia nahm die Polizei 32 Männer aus Gambia ­unter Einsatz von Pfefferspray und Reiz­gas fest. Sicherheitsdienst und Heimleitung stellten eine Liste mit den Namen angeblicher Rädelsführer zusammen. Drei Männer wurden aus der Untersuchungshaft nach Italien abgeschoben.

Mehrere Flüchtlinge legten Widerspruch gegen Strafbefehle ein, die sie wegen des Vorwurfs des Landfrie­densbruchs bekommen hatten. Vor dem Amtsgericht Augsburg wurden nach einer Dreiviertelstunde Verhandlung ein 21 und ein 28 Jahre alter Angeklagter wegen Landfriedensbruchs zu Geldstrafen in Hohe von 800 beziehungsweise 900 Euro verurteilt. Beide hatten bereits zwei Monate lang in Untersuchungshaft gesessen. Die Urteilsbegründung der Richterin trägt eindeutig politische Züge: »Das Urteil ist generalprä­ventiv zu sehen, weil es immer mehr Probleme in den Unterkünften gibt.« Die Angeklagten seien »Gäste in unserem Land und sollten sich auch so ­benehmen«.

Die Vorkommnisse in Donauwörth sind kein Einzelfall. Immer wieder kommt es vor allem in den sogenannten Ankerzentren in Bayern zu Gewaltausbrüchen. Wenn Flüchtlinge gegen Abschiebungen protestieren und sie womöglich sogar zu behindern versuchen, droht ihnen eine Anklage wegen Landfriedensbruchs. In der Einleitung zur neuen Dokumentation bringt die ARI den Zweck die­ser Repressalien auf den Punkt: »Ziel ­aller Gesetzesverschärfungen und neuerer Formen der Massenlager ist die immer weitere Entrechtung der Geflüchteten und die Beschneidung der Möglichkeiten, hier ein Bleiberecht zu erhalten. Es geht aber auch um absolute Kontrolle und bessere Zugriffsmöglich­keiten zum Zweck der schnellen und meist gewaltsamen Abschiebungen.«