Mehr Klarsfeld, bitte
Der öffentliche Umgang mit dem Fall Lübcke zeigt, dass Politik und Behörden bislang keine angemessenen Konsequenzen aus dem Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gezogen haben. Weiterhin reden Politik und Behörden den rechtsextremen Terror klein. Als sich abzeichnete, dass der Mord an Walter Lübcke ein rechtsextremes Motiv haben könnte, sagte der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU): »Wenn die Berichte zum Fall Lübcke zutreffen, dann war es kaltblütiger rechtsextremer Mord. Das haben wir seit den NSU-Morden nicht mehr für möglich gehaltenen.« Doch seit der Selbstenttarnung des NSU ist eine ganze Reihe rechtsextremer Morde bekannt geworden, von denen einige auch von staatlichen Stellen als solche anerkannt werden – etwa der rechtsextreme Terroranschlag am 22. Juli 2016 am und im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), bei dem neun Menschen mit Migrationshintergrund sowie Sinti erschossen wurden. Altmaiers Äußerung steht exemplarisch für die Ignoranz des Staats im Kampf gegen den rechtsextremen Terror.
Nach der Selbstenttarnung des NSU versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremer Gewalt, dass alles getan werde, »damit sich so etwas nie wiederholen kann«. Nun kann man den Regierungen nicht nicht vorwerfen, dass sie seitdem nichts getan hätten. Die Verfassungsschutzbehörden, zu deren Verstrickung in die Morde des NSU immer noch viele Fragen offen sind, konnten in den vergangen Jahren enorme Personalzuwächse verzeichnen. Doch die Analysefähigkeit der Geheimdienste hat das bislang nicht merklich gesteigert. Nach dem Mord an Walter Lübcke hieß es, sie hätten den mutmaßlichen Täter Stephan E. nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Selbst der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, musste einräumen, dass man das Problem mit dem Rechtsextremismus nicht unter Kontrolle habe. Ungewollt ehrlich brachte es der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, auf den Punkt. Er gehe nicht von einer Verschärfung der Sicherheitslage aus, sagte er vergangene Woche im Innenausschuss des Deutschen Bundestags. Ganz recht: Schon vor dem Lübcke-Mord töteten Rechtsextreme und auch danach werden sie ihre Gewalt nicht einstellen.
Wie schon nach der Selbstenttarnung des NSU fordern Unionspolitiker zurzeit wieder mehr Geld, mehr Personal und mehr Befugnissen für die zuständigen Behörden. Doch was soll das bringen? Das Problem der Verfassungsschutzämter ist ein qualitatives, kein quantitatives. Das zeigt sich schon an der Spitze: Das Bundesamt wurde von 2012 bis 2018 von Hans-Georg Maaßen geleitet, der den Rechtsextremismus systematisch kleingeredet hat. Auch sonst erfüllen die Behörden ihre Aufgabe nicht hinreichend: Es gibt derzeit 467 Haftbefehle gegen Rechtsextreme, die nicht vollstreckt werden, weil die Personen untergetaucht sind. Offensichtlich wird das Problem nicht nur vom Inlandsgeheimdienst, sondern auch von der Polizei stiefmütterlich behandelt. Dazu mehren sich inzwischen die Nachrichten über rechtsextreme Tendenzen in den Behörden selbst.
Um etwas gegen die 24 100 dem Verfassungsschutz bekannten Rechtsextremen zu tun, von denen mehr als die Hälfte gewaltbereit sein soll, bräuchten die Behörden nicht mehr, sondern wohl ein anderes Personal. Schon der einstige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vertraute den heimischen Behörden nicht. Er wandte sich 1957 direkt an die israelischen, um Adolf Eichmann dingfest zu machen. Bauer war die Ausnahme. Nazijägerinnen und -jäger landen in Deutschland nicht im Staatsdienst, sondern sind in der unabhängigen Recherche tätig. Das war schon früher und ist weiterhin so. Gegen Nazis hilft deshalb: weniger Andreas Temme, mehr Beate Klarsfeld.