Die neue Politik der Internierung

Das Wesen des Lagers

Die linke US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez bezeichnet Flüchtlingscamps als Konzentrationslager. Der Vergleich ist nicht aus der Luft gegriffen.

Eines wird man dem journalistischen Flaggschiff des Springerverlags, der ­Tageszeitung Die Welt, nicht vorwerfen können: Antiamerikanismus, ja noch nicht einmal »Antitrumpismus«; gleichwohl findet am 4. Juli, dem US-amerikanischen Nationalfeiertag, der US-Korrespondent der Zeitung Hannes Stein deutliche Worte: »Während der Präsident von den Stufen des Lincoln-­Monuments herab eine Ansprache an die amerikanische Nation hielt, (…) schlafen Kinder sehr allein auf Zementfußböden von Internierungslagern an der amerikanischen Grenze.« Außerdem gebe es Berichte über grausame Demütigungen, sechs Kinder seien »in der Obhut der amerikanischen Behörden« verstorben. Das seien, so Stein, »die Vereinigten Staaten anno domini 2019«.

Fragt man nach Konzentrationslagern, so begann das 20. Jahrhundert auf Kuba und endet auch dort – auf Guantánamo.

In derselben Ausgabe berichtet er über den Auftritt zweier Auschwitz-Überlebender im rechten Fernsehsender Fox News, bei dem sie die linke demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez dafür kritisierten, die sogenannten detention centers für Migranten mit den Konzentrations­lagern der Nazis verglichen zu haben.

Sind derlei Vergleiche zulässig? Es war Ludwig Wittgenstein, der festgestellt hat, dass die Bedeutung eines Wortes die Regel seines Gebrauchs ist. Tatsächlich: Nach wie vor wird der ­Begriff »Konzentrationslager«, also »KZ«, vor allem mit nationalsozialistischem Terror assoziiert. Die Journalistin und Buchautorin Andrea Pitzer gibt hingegen in der New York Review of Books zu bedenken, dass die Vernichtungslager der Nazis nicht ohne eine lange Vorgeschichte zu verstehen seien; in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sei der Begriff ›Konzentrationslager‹ nicht mehr auf die Art der außergerichtlichen Inhaftierung angewandt worden, die er seit Generationen bezeichnet hatte.

Sache und Begriff des Konzentrationslagers sind älter und durchaus nicht gleichbedeutend mit dem, was in der Wissenschaft heute als »Vernichtungs­lager« bezeichnet wird. Dies zeigte bereits die viel zu wenig beachtete, schon 2001 auf Deutsch erschienene Studie von Pierre Rigoulot und Joel Kotek »Das Jahrhundert der Lager, Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung«. Fragt man nach dem Ursprung von Konzentrationslagern, so begann das 20. Jahrhundert auf Kuba und endet auch auf Kuba – in Guantánamo. Als ­kubanische Unabhängigkeitskämpfer 1895 gegen die spanische Kolonial­herrschaft rebellierten und in ersten Gefechten die spanische Armee besiegten, schlug der Armeekommandant der Insel dem spanischen Statthalter vor, die Landbevölkerung in städtischen Ballungsräumen zu »rekonzentrieren«.

Der zuständige Militärgouverneur ließ an der schmalsten Stelle Kubas eine militärische Sperrlinie errichten, durch die eine nur für das Militär gangbare Trasse verlief, die rechts und links mit dem 20 Jahre zuvor in den USA erfundenen Stacheldraht gesichert wurde. Um den Rebellen ihre Unterstützung zu nehmen, wurde den Einwohnern der betroffenen Landstriche verboten, sich jenseits ihrer Dörfer aufzuhalten – Maßnahmen, die durch standrechtliche Erschießungen und Massendeportationen nach Afrika und Spanien ergänzt wurden.

Immerhin sollten die an den Stadträndern »rekonzentrierten« Menschen theoretisch ausreichende Unterkünfte und angemessene sanitäre Einrichtungen erhalten. Die Wirklichkeit sah ­jedoch anders aus: Die verbliebenen ländlichen Gebiete wurden gebrandschatzt, die Unterkünfte der »Rekonzentrierten« waren voll von bis auf die Knochen abgemagerten, todkranken Menschen, die sich von den Abfällen der spanischen Truppen ernährten. Ein US-amerikanischer Beobachter beschrieb die Gefangenen: »Sie sind aus ihrer Heimat verschleppt worden, sie ­leben auf stinkendem Boden, atmen ungesunde Luft, trinken verdorbenes Wasser und ernähren sich von verfaulter Nahrung, wenn sie überhaupt welche finden. Wer soll sich da noch wundern, dass die Hälfte von ihnen bereits tot ist und dass ein Viertel derer, die noch leben, so krank ist, dass keinerlei Hoffnung mehr besteht.«

Das Lager ist kein Gefängnis. Das ist für das Verständnis seines Wesens entscheidend.

Nach konservativen historischen Schätzungen kamen damals 200.000 Menschen um – die Gräuel der spanischen Armee ließen die USA schließlich intervenieren und die Unabhängigkeit der Insel herbeiführen. In diesem Zusammenhang pachteten die USA die Bucht von Guantánamo Bay, deren exterritorialer Status bis vor kurzem dazu diente, die auf unklarer und somit gegen internationales Recht verstoßender Rechtsgrundlage zunächst in Käfigen eingesperrten Taliban und al-Qaida-Kombattanten auf unbestimmte Dauer unter zweifelhaften Bedingungen zu inhaftieren.

Auch die sogenannten Rekonzentrationslager der Spanier mit ihren brutalen und erniedrigenden Grausamkeiten sind mit den von den USA geführten Internierungsanlagen, ob in Guantanamo Bay oder an der mexikanischen Grenze, nicht gleichzusetzen – ungeachtet aller Menschenrechtswidrig­keiten, die dort stattfinden oder stattgefunden haben. Was sie aber ver­bindet, ist das, was die historischen Konzentrationslager von klassischen ­Gefängnissen unterscheidet.

Das Lager, und das ist für ein Verständnis seines Wesens entscheidend, ist kein Gefängnis. Seine Ordnung geht nicht aus dem Strafrecht hervor, sondern ist Ausdruck eines Ausnahme- und Maßnahmenstaats. Der Grund der Internierung ist nicht primär juristisch, auch wenn diese auf der Grundlage ­eines formal gültigen Gesetzes geschehen mag – sondern primär politisch. Es geht beim Wegsperren ­weniger darum, konkrete Straftaten zu ahnden, sondern eine politisch unerwünschte Bevölkerungsgruppe ihrer Freiheit und unter Umständen sogar ­ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit und ihres Lebens zu berauben. Diese Unterscheidung ist so einfach, wie sie in der Praxis unhandlich ist: Ganz offensichtlich gibt es ungeachtet struktureller Ähnlichkeiten historisch wie gegenwärtig solche und solche Lager. Der Grad der Entrechtung und Entmenschlichung, welche die dort Internierten erleben, variiert in der Realität oft beträchtlich oder verändert sich über die Zeit – das alles macht die Debatte über Sache und Begriff so kompliziert.

Tatsache ist, dass man das Elend eines Flüchtlingslagers auf einer Insel im Mittelmeer mit einem nationalsozialistischen Vernichtungslager nicht gleichsetzen kann. Es ist auch nicht gleichzusetzen mit dem, was man inzwischen über die Situation der in Westchina internierten uigurischen Bevölkerung weiß. Und zumindest bisher liegen die US-amerikanischen detention centers nicht jenseits der Grenzen des Gesetzes, auch wenn das Gesetz in vielen von ihnen ignoriert wird.

Was sich hingegen derzeit in China anzubahnen scheint, ist die Struktur eines Doppelstaats. Einem bestenfalls dürftig entwickelten formalen Gesetzesstaat auf der einen Seite steht auf der anderen ein der Zuständigkeit der Gerichte entzogener Maßnahmenstaat entgegen. Auch in diesem Falle drängen sich historische Parallelen auf, denn genau so charakterisierte 1940/1941 im US-amerikanischen Exil der Jurist Ernst Fraenkel das nationalsozialistsiche Deutschland als »Doppelstaat«. Berichte über die Situation in den nordkoreanischen Arbeitslagern erinnern wiederum an den stalinistischen Gulag. Auch von dieser Seite her ist man gegenwärtig mit dem Umstand konfrontiert, dass das Phänomen der Internierung von Unerwünschten keine akademische Debatte über Phänomene der Vergangenheit ist.

»Historische Analogien sind mächtige Werkzeuge, deren Missbrauch schweren Schaden anrichten kann«, schrieb Kenan Malik am Sonntag im Guardian zur Debatte über die detention centers in den Vereinigten Staaten. Je nach Kontext können sie aber auch Augen öffnen.