Die Gedächtniszeit ist vorbei

Shoah und Schablone

Seite 2 – Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein

Es gab jedoch noch einen weiteren Grund. So wurde der frühe Kalte Krieg von einem eigentümlichen Nebeneinander von Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein geprägt. Der Technik-Boom dieser Jahre, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen sorgten für eine enorme lebensweltliche Beschleunigung. Fortschritt und Zukunft hatten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Konjunktur. Der allgemeine Optimismus wurde jedoch durch die Existenz der Atombombe herausgefordert, deren Einsatz während des Korea-Kriegs, des Sinai-Feldzugs und der Kuba-Krise tatsächlich drohte.

Wer keine Zukunft hat, setzt sich nicht mit der Vergangenheit auseinander, sondern höchstens mit der Gegenwart.

Beide Strömungen der Zeit schoben sich vor die Erinnerung an den Holocaust. Die Auseinandersetzung mit der Vernichtung passte weder zum Geschichtsoptimismus der Epoche noch ließ das befürchtete atomare Endspiel ein großes Interesse an der nur wenige Jahre zurückliegenden Katastrophe der Judenheit zu: Wer keine Zukunft hat, setzt sich nicht mit der Vergangenheit auseinander, sondern höchstens mit der Gegenwart.

Befördert wurde diese Entwicklung durch den Universalismus, den ideologischen Soundtrack dieser Jahre: Sowohl der Atomkrieg als auch die in Washington und Moskau formulierten Versprechen von Freiheit und Demokratie, Gleichheit und Sozialismus schienen die gesamte Welt zu betreffen. Der aus den Revolutionen des 18. Jahrhunderts kommende Gedanke der einen Menschheit, auf den sich Ost und West gleichermaßen beriefen, lebte in gewisser Weise fort. Wer vor diesem Hintergrund auf den Unterschied zwischen den verschiedenen Opfergruppen des Nationalsozialismus verwies, schien die Vorstellung von der Einheit der Gattung in Frage zu stellen.