Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

Seite 2 – 1

Als die ersten Afrikaner 1619 nach Virginia kamen, gab es dort keine »weißen« Menschen, und den kolonialen Aufzeichnungen zufolge gab es sie auch in den folgenden 60 Jahren nicht. Das schrieb Theodore Allen in seiner bahnbrechenden Studie »The Invention of the White Race« von 1994. Die Afrikaner, die 1619 nach Virginia kamen, kamen natürlich nicht als freie Menschen, sondern als Sklaven, nachdem sie das Grauen des transatlantischen Transports durchlitten hatten, um von Europäern, die begonnen hatten, zuerst Süd- und dann Nordamerika zu kolonisieren, gekauft und verkauft zu werden.

Aber inwiefern gab es keine Weißen in Virginia? In dem Sinne, wie Allen anmerkt, dass die Europäer in Virginia sich nicht unbedingt als weiß sahen. Sie waren Engländer, ihre Kinder waren Engländer. Sie wurden nie als weiß bezeichnet, noch bezeichneten sie sich selbst als weiß. Weißsein als Identität musste erst geschaffen werden. Und sie entstand, als die Idee der »Rasse« aufkam. Inzwischen hat man sich so daran gewöhnt, das gesamte gesellschaftliche Leben entlang dieser Kategorie zu verstehen, dass die meisten davon ausgehen, dies sei in sämtlichen Gesellschaften in allen Epochen ebenfalls so gewesen. Das stimmt aber nicht. Erst mit dem Aufkommen der Moderne entwickelte man sowohl die wissenschaftlichen Konzepte als auch die dem Konzept der Rasse zugrunde liegende politische Sprache.

Im Europa des 16., 17. und 18. Jahrhundert schufen eine Reihe intellektueller und sozialer Entwicklungen die Voraussetzungen für das Entstehen der modernen Welt. In dieser Zeit begann sich die moderne Vorstellung vom Selbst und vom Individuum als rational handelndes Subjekt zu entwickeln. Brauchtum und Tradition verloren an Autorität, während die Vernunft zur Erklärung der natürlichen und sozialen Welt enorm an Bedeutung gewann. Die Natur betrachtete man nicht als chaotisch, sondern als gesetzmäßig und damit als der Vernunft zugänglich. Und nicht zuletzt wurde der Mensch dieser so natürlichen wie vernünftigen Ordnung zugerechnet und das Wissen säkularisiert. In dem Moment, wo man den Menschen als Teil der natürlichen Ordnung betrachtete, stellte sich die Frage: Wie passte der Mensch in diese Ordnung? Naturphilosophen begannen, die gesamte Natur zu klassifizieren. Wie aber waren Menschen im Rahmen dieses Projekts zu klassifizieren?

Wissenschaftler wie Carl Linnaeus, Johann Friedrich Blumenbach und andere machten sich daran, diese Frage zu beantworten. Sie begannen, verschiedene Kategorien von Menschen zu erstellen. Der deutsche Anthropologe Blumenbach, der als ­Begründer der Anthropologie gilt, definierte fünf Menschengruppen – Kaukasier, Mongolen, Äthiopier, Malayen und Amerikaner. Diese Einteilung ist heutzutage noch verbreitet, wenn auch eine andere Terminologie verwendet wird. Von Blumenbach stammt auch der Begriff Kaukasier, der »weiße Europäer« meint und bis heute im Englischen gängig ist.

Das 18. Jahrhundert ist das Zeitalter der Aufklärung. Diese war geprägt von einer Leidenschaft für Kategorisierungen und dem Glauben, mit Hilfe von Systematiken Ordnung in das scheinbare Chaos des irdischen Daseins zu bringen. Aber diese Epoche war auch von einer anderen, starken Idee geprägt: dem Glauben an die Universalität der menschlichen Natur, an die Bedeutung universeller Werte und die Möglichkeit ­einer gemeinsamen menschlichen Zivilisation.

Diese beiden Haupt­aspekte aufklärerischen Denkens strebten in der Debatte über die Natur der menschlichen Unterschiede tendenziell in unterschiedliche Richtungen. Ein Großteil der Philosophen des 18. Jahrhunderts sah darin jedoch keinen Widerspruch. Es ist wahr, dass eine Reihe von führenden Denkern des 18. Jahrhunderts – Hume, Kant, Voltaire, Jefferson – sich mit Ideen angeborener Unterschiede zwischen menschlichen Gruppen beschäftigten.

Doch bis auf ein paar Ausnahmen taten sie dies nur zögerlich oder beiläufig. Im Wesentlichen blieben die Denker des 18. Jahrhunderts sehr unempfänglich für »rassisches Denken«. Die philosophische Bindung an Ideen der Universalität und der menschlichen Einheit ließ wenig Raum für rassistische Vorstellungen. Erst im 19. Jahrhundert etablierte sich rassisches Denken – die Vorstellung, dass Menschen in eine Reihe von im Wesentlichen unterschiedlichen Gruppen eingeteilt werden können. Dies geschah in bewusster Abgrenzung vom Universalismus der Aufklärung.

»Es gibt den Menschen als solchen nicht«, schrieb der französische Erzreaktionär Joseph de Maistre in seiner Polemik gegen die Idee der Menschenrechte. »Ich habe Franzosen, Italiener und Russen gesehen. (…) Was den Menschen betrifft, so bin ich ihm noch nie irgendwo begegnet.« De Maistre war eine Schlüsselfigur der sogenannten Gegenaufklärung, einer reaktionären Bewegung, die sich gegen die aufklärerischen Vorstellungen von Gleichheit, Demokratie und Universalismus richtete. Für die Gegenaufklärung bildeten Tradition und Autorität, Status und Hierarchie, Ungleichheit und Unvernunft das Fundament von Ordnung und Stabilität.

Eine fortschrittlichere Kritik an universalistischen Ideen entwickelte hingegen der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder. Er war eine Schlüsselfigur der Romantik, deren Kulturbegriff einmal sehr einflussreich werden sollte. Auch das Denken der Gegenwart ist noch maßgeblich davon geprägt. Aus der Sicht Herders besitzt jedes Volk und jede Nation etwas, was sie einzigartig macht – ihre Kultur. Diese äußert sich in der je eigenen Sprache, Literatur, Geschichte und Lebensweise. Die einzigartige Natur eines jeden Volks drücke sich, so Herder, in seinem »Volksgeist« aus – dem unveränderlichen Geist eines Volks, der sich im Verlauf der Geschichte verfeinere.

Herder war kein Reaktionär – er war ein überzeugter Verfechter der Gleichheit. Doch seine Rolle im modernen politischen Denken ist ambivalent. Im 18. Jahrhundert sah sich Herder in der Tradition der Aufklärung. Doch er fand, man müsse einige der Grundannahmen der französischen Aufklärer in Frage stellen, um das Ideal der Gleichheit vertreten zu können. Ein bedeutender Teil antirassistischen Denkens des 20. Jahrhunderts lässt sich auf Herders Pluralismus kultureller Differenz und seiner Verehrung dessen zurückführen, was wir heutzutage als partikularistische Identitäten bezeichnen.

Im 19. Jahrhundert bewirkte Herders Denken jedoch – wenn auch unbeabsichtigt – die Förderung rassischen Denkens. Vom der Akzeptieren der Vorstellung, verschiedene Völker seien durch unterschiedliche Empfindungen motiviert, war es kein großer Schritt mehr, diese Gefühle als Ausdruck einer rassischen Eigenart zu verstehen. Im Laufe der Zeit verwandelte sich Herders Vorstellung vom Volksgeist in die Kategorie des Rassentypus.

Das Konzept des Rassentypus entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Vorstellung einer Gruppe von Menschen, die durch eine Reihe grundlegender Merkmale verbunden waren und sich von anderen Typen durch diese Merkmale unterschieden. Zu diesen Merkmalen zählte man nicht nur geistige und körperliche Eigenschaften, sondern auch soziale Bedürfnisse, Bestrebungen und Werte. Jeder Typus blieb nach dieser Vorstellung im Laufe der Zeit konstant, und es war genau definiert, wie weit Angehörige eines Typus von den Grundeigenschaften des Gesamttypus abweichen konnten. So entstand die ursprüngliche Identitätspolitik.