Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

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Die Anhänger der Rassenkunde hielten die weiße Rasse für den allen anderen überlegenen Rassentypus. Die Bedeutungen sowohl des Begriffs der Rasse als auch der weißen Identität unterschieden sich jedoch im 19. Jahrhundert deutlich von dem, was man gegenwärtig darunter versteht.

Heutzutage neigen wir zu der Vorstellung, dass Rasse in erster Linie durch Hautfarbe oder den geographischen Herkunftskontinent definiert worden sei. Im 19. Jahrhundert wurde sie jedoch sowohl durch soziale Herkunft und Status als auch durch die Hautfarbe definiert. Und dieser Umstand prägte unweigerlich die Bedeutung der weißen Identität. Ende 1865 fand in Southampton in Süd­england ein Bankett zu Ehren von Edward John Eyre, dem Gouverneur von Jamaika, statt. Im Oktober 1865 hatte Eyre einen lokalen Bauernaufstand mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Sein Vorgehen war in England sehr umstritten. Als Reaktion auf das Bankett organisierte das Komitee für die Unabhängigkeit Jamaikas eine Gegendemonstration, von der der Daily Telegraph berichtete:

»Es gibt eine ganze Reihe von Negern in Southampton, die einen stammesüblichen Gefallen finden an jeglicher Unruhe, die sich ergibt, und die wohl von der Überzeugung durchdrungen sind, dass es angemessen sei, zu johlen und eine Reihe von Gentlemen, die zu einer Dinnerparty gehen, anzubrüllen.«

Tatsächlich, so der Historiker Douglas Lorimer 1978 in seinem Buch »Colour, Class and the Victorians«, waren die »Neger«, von denen der Daily Telegraph berichtete, Southamptons sehr englischer und sehr hellhäutiger Mob, der sich auf Straßen vor dem Festsaal versammelte, während seine respektableren proletarischen Mitstreiter an der größten öffentlichen Kundgebung in der Geschichte der Stadt teilnahmen, um gegen den offiziellen Empfang Gouverneur Eyres zu protestieren.

Der Vorfall in Southampton verdeutlicht die Sichtweise des Establishments im 19. Jahrhunderts auf englische Arbeiter und Schwarze, die man, wie das Beispiel zeigt, als Teil ein und desselben »Stammes« betrachtete. Dieses Phänomen war mitnichten eine englische Besonderheit. Der französische christliche Sozialist Philippe Buchez, der 1857 vor der Medizinisch-Psychologischen Gesellschaft von Paris sprach, fragte sich, wie es möglich sein könne, dass sich »in einer Bevölkerung wie der unseren Rassen bilden können – nicht nur eine, sondern mehrere Rassen –, die so elend, minderwertig und bastardisiert sind, dass sie unter die minderwertigsten wilden Rassen eingestuft werden können, denn ihre Minderwertigkeit ist manchmal unheilbar«. Die Rassen, von denen er sprach, kamen nicht aus Afrika oder Asien. Gemeint war die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung.

Wenn man heutzutage von »weißer Identität« spricht, geschieht dies größtenteils mit Blick auf die Arbeiterklasse. Einwanderungsfeindlichkeit und Unterstützung des Populismus gelten in erster Linie als Phänomene der Arbeiterklasse. Wenn es um weiße Identität geht, ist ständig von der »weiße Arbeiterklasse« die Rede. Aber historisch gesehen ist diese Klasse nicht das, worauf sich weiße Identität überhaupt bezog – das Gegenteil war der Fall. Im Verständnis des 19. Jahrhunderts ging es bei »Rasse« nicht minder um Klasse und ­sozialen Status als um Hautfarbe – und die Arbeiterklasse hatte den Status, nicht weiß zu sein.

Der Historiker Victor G. Kiernan schreibt, dass man unzufriedene Einheimische in den Kolonien und Aufrührer in der Fabrik als zwei Erscheinungsformen desselben Problems sah. Der Diskurs über die Bar­barei und die Finsternis der entlegenen Teile der Welt, die zu beenden die Aufgabe Europas sei, ging aus der Angst vor dem heimischen Proletariat hervor. Weißsein im heutigen Sinne entsteht erst um die Wende zum 20. Jahrhundert. Zwei Entwicklungen veränderten die Bedeutung der weißen Identität: das Aufkommen der Demokratie und der sogenannte Hochimperialismus. Das lässt sich etwa am »Wettlauf um Afrika« in den achtziger Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts zeigen.

Mit der Ausweitung des Wahlrechts auf große Teile der Arbeiterklasse (wenn auch erst später auf Frauen) wurde die Sprache der rassischen Unterlegenheit nicht mehr auf die Arbeiterklasse angewandt. In der Demokratie konnte das im Elitebewusstsein des 19. Jahrhunderts übliche Verständnis der Arbeiterklasse als niedere Rasse nicht mehr ohne Weiteres in der Öffentlichkeit artikuliert werden. Es verschwand langsam aus der öffentlichen Wahrnehmung.

Die Ausweitung des Wahlrechts fiel mit der Expansion imperialer Herrschaft zusammen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es von Afrika bis zum Pazifik zu einem wahren Rausch von Landnahmen durch europäische Staaten. Zwischen 1874 und 1902 vergrößerte allein Großbritannien sein Empire um 12 Millionen Quadratkilometer und 90 Millionen Menschen.

Durch die Gleichzeitigkeit von Demokratie und Imperialismus »demokratisierte« sich die Unterstützung des Imperialismus. Nationalismus und Rassendenken hörten auf, eine elitäre Ideologie zu sein, wie es die längste Zeit des 19. Jahrhunderts der Fall war, und wurden Teil der Populärkultur. In Massenzeitungen, Groschenromanen sowie in der Unterhaltungsindustrie wurde die rassische Überlegenheit der weißen Briten zelebriert.

Die Folge war, dass sich die Rede von der Rasse immer mehr auf die Hautfarbe und die Unterscheidung zwischen Europa und dem Empire konzentrierte. Die colour line wurde nun zur wichtigsten Methode, um die Welt zu verstehen und einzuteilen. Colour bars und rassistische Ausgrenzung wurden sowohl in den Kolonien als auch in den Staaten der Metropolen zu einer Lebensweise.

Die achtziger Jahre des 19. und das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren auch Zeitalter der Einwanderungskontrolle. Vom US-amerikanischen Chinese Exclusion Act und der Förderung der Panik aufgrund der »gelben Gefahr« über die »White Australia«-Politik bis hin zum britischen »Aliens Act«, der in erster Linie verhindern sollte, dass Juden, die vor Pogromen aus Osteuropa flohen, ins Land kamen, wurden Einwanderungsgesetze zu einem Mittel der Institutionalisierung rassischer Differenz und Identität. Es ist wichtig, schrieb der amerikanische Historiker und Journalist Lothrop Stoddard 1920 in seinem Buch »The Rising Tide of Colour Against White World Supremacy«, dass »die steigende Flut der Farbe von weißen Deichen aufgehalten wird«.

In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts veränderte sich daher das Verständnis von Rasse. Während die frühere Überzeugung von der Unterlegenheit außereuropäischer Völker eine Erweiterung der Überlegung von der Unterlegenheit der unteren Schichten im eigenen Land war, wurde er nun zum Kern des rassischen Denkens. Die Rasse wurde zu einem Phänomen von »schwarz« und »weiß«, und die weiße Identität nahm ihre zeitgenössische Gestalt an.