Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

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Das Verhältnis zwischen Linken, Rechten und der Identitätsfrage veränderte sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Nationalsozialismus und dem Holocaust war offener Rassismus stark diskreditiert. Der Rassismus an sich verschwand zwar nicht. Während aber in der Vorkriegszeit Vorstellungen von rassischer Überlegenheit oder weißer Vorherrschaft nicht nur sozial akzeptabel, sondern in elitären Kreisen auch noch weitgehend unumstritten waren, bestimmten Ideen der rassischen Gleichheit nunmehr die Politik.

In den sechziger Jahren war dieser Wandel bereits weit fortgeschritten. Zu jener Zeit  begannen auch die radikale Ablehnung des Universalismus und die Annahme partikularer, stärker separatistischer Ideen eine neue Form anzunehmen. Eine Frage, die sich die Radikalen der Nachkriegszeit stellten, war die, warum Deutschland, eine Nation mit einer starken aufklärerischen Tradition, so vollständig dem Nazismus hatte erliegen können. Viele meinten, die rationalistische Logik der Aufklärung selbst habe diese Barbarei verursacht. Inspiriert von antikolonialen Theoretikern wie Frantz Fanon, aber auch von den missverstandenen Ideen der Frankfurter Schule und anderen kritischen Denkern, begann man den Universalismus als eurozentrisch, ja sogar als rassistisch anzusehen, weil er versucht habe, euroamerikanische Ideen der Rationalität und Objektivität ­anderen Menschen aufzuzwingen.

Auf der politischen Ebene entwickelten sich diese Ideen in den sechziger Jahren in der Neuen Linken und den neuen sozialen Bewegungen. Vor allem der Kampf für die Rechte der Schwarzen in den USA hatte enormen Einfluss auf die Entwicklung neuer Vorstellungen von Identität und Selbstorganisation. Zwischen ­einer stark rassistischen Gesellschaft einerseits und einer Linken, die ihrer Lage weitgehend gleichgültig gegenüberstand, zogen sich viele Schwarze aus gemischten Bürgerrechtsorganisationen zurück und gründeten eigene Gruppen nur für Schwarze. Viele argumentierten, dass Afroamerikaner sich nicht nur aus strategischen Gründen, sondern auch aus kultureller Notwendigkeit separat organisieren mussten. »In Afrika spricht man von Negritude«, schrieb der Vordenker der Black-Power-Bewegung Julius Lester. »Es ist die Erkenntnis jener Dinge, die uns einzigartig machen und uns vom weißen Mann unterscheiden.«

Der schwarze Radikalismus diente vielen andere Gruppen, von Frauen bis hin zu den Native Americans, von Muslimen bis hin zu Schwulen, als Vorbild, um ihre Politik auf der Grundlage ihrer jeweils eigenen Kultur, Ansprüche und Ideale zu artikulieren. Die Forderung sei nicht die nach der Aufnahme in die Gesamtheit der »universellen Menschheit« auf der Grundlage gemeinsamer menschlicher Eigenschaften, noch sei es die Forderung nach Respekt »trotz der jeweiligen Unterschiede«, schrieb die Feministin und Soziologin Sonia Krups. Vielmehr sei es erforderlich, dass man sich selbst anders respektiere.