Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

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Aber was hat das alles nun mit weißer Identität zu tun? In der Nachkriegszeit verschwanden Vorstellungen von weißer Identität ebenso wenig wie der Rassismus. Aber sie waren immer mehr marginalisiert, und wenn sie sich äußerten – wie in der Opposition zur Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten der USA oder im »­Powellismus« in Großbritannien – wurden sie von den Vertretern der Mehrheitsgesellschaft sofort als Ausdruck von Rassismus wahrgenommen. In den siebziger Jahren war es nur noch die äußerste Rechte, in ­deren Kreisen solche Ideen noch Gewicht hatten. Innerhalb von Teilen der extremen Rechten wurde das Konzept der weißen Identität aber neu konzipiert. Statt mit Vorstellungen von biologischer Überlegenheit und Unterlegenheit zu argumentieren, begannen einige aus der ex­tremen Rechten, sich kulturalistische Vorstellungen von Differenz anzueignen, um rassistische Vorstellungen von Identität zu begründen.

Die französische extreme Rechte hat die Ideen des Pluralismus besonders beharrlich als reaktionäres ­Argument gegen Einwanderung genutzt. Der Philosoph Alain de Benoist, einer der Gründer der Nouvelle Droite, nutzte das Konzept des droit à la difference (»das Recht auf Differenz«), um die französische Nationalkultur gegen die Auswirkungen der Einwanderung zu verteidigen und sie davor zu schützen, »überschwemmt » zu werden.

Die Durchmischung der Kulturen, so argumentierte er, beeinträchtige die kulturelle Identität sowohl der Aufnahme- als auch der Minderheitsgemeinschaften. »Wird die Erde aufgrund der entkulturalisierenden und depersonalisierenden Trends, für die der US-amerikanische Imperialismus heute der arroganteste Repräsentant ist, auf etwas Homogenes reduziert werden«, fragt er rhetorisch, »oder werden die Menschen in ihren Überzeugungen, Traditionen und Sichtweisen auf die Welt die Mittel für den notwendigen Widerstand finden?« So eignete sich die identitäre Rechte das radikale Argument für den Pluralismus für ihre reaktionären Zwecke an.

Der ethnopluralistische Standpunkt, der sich in den siebziger Jahren auf die extreme Rechte beschränkte, hat sich in den vergangenen zehn Jahren zu einer Perspektive der Mehrheit entwickelt. Mainstream-Politiker, liberale und post­liberale Kommentatoren, sogar Wissenschaftler, plädieren inzwischen dafür, Weiße sollten geltend machen dürfen, was der Politikwissenschaftler Eric Kaufmann als ihr persönliches »rassisches Eigeninteresse« definiert – so wie jede andere ethnische Gruppe.

Dieselben Ideen, die die sozialen Bewegungen der sechziger Jahre in die zeitgenössische Identitätspolitik überführt haben, haben auch die Rehabilitierung der weißen Identität vorangetrieben. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht die Veränderung der Lage der Arbeiterklasse. In ganz Europa fühlen sich viele Teile der Arbeiterklasse sowohl wirtschaftlich als auch politisch marginalisiert.

Wirtschaftliche und soziale Veränderungen – der Niedergang der verarbeitenden Industrie, der Zerfall des Wohlfahrtsstaats, das Aufkommen von Austeritätspolitik, die Atomisierung der Gesellschaft, das ­Anwachsen von Ungleichheit – sind mit politischen Veränderungen wie der Erosion der Gewerkschaftsmacht und der Transformation sozialdemokratischer Parteien verbunden, wodurch in Teilen ihrer alten Stammwählerschaft ein Gefühl von Wut und Enttäuschung entstanden ist. Die Formen der sozialen Organisation, die einst dem Leben der Arbeiterklasse Identität, Solidarität, ja Würde verliehen, sind verschwunden.

Die Marginalisierung der Arbeiterklasse ist weitgehend das Ergebnis wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen. Aber viele Betroffenen betrachten ihre Marginalisierung in erster Linie als kulturellen Verlust. Der Niedergang der wirtschaftlichen und politischen Macht der Arbeiterklasse und die Schwächung von Arbeiterorganisationen und sozialdemokratischen Parteien haben dazu beigetragen, die wirtschaftlichen und politischen Ursachen der sozialen Konflikte zu verschleiern.