Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

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Da die Kultur zum Medium geworden ist, um soziale Fragen zu verhandeln, ist die Sichtweise auf ihre Probleme auch bei vielen aus der Arbeiterklasse kulturalistisch geprägt. Auch sie haben die Sprache der Identität übernommen, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken.

Die Sprache der Politik und der Klasse ist also der Sprache der Kultur gewichen. Oder besser gesagt, die Klasse selbst wird nicht mehr als politisches, sondern als kulturelles, ja rassisches Attribut angesehen. Soziologen und Journalisten sprechen heute oft von der »weißen Arbeiterklasse«, aber selten von der »schwarzen Arbeiterklasse« oder der »muslimischen Arbeiterklasse«. Schwarze und Muslime gelten als Zugehörige nahezu klassenloser Kollektive. Die Arbeiterklasse sieht man inzwischen in erster Linie als weiß, und »weiß« ist zu einem notwendigen Adjektiv geworden, um die Arbeiterklasse zu definieren.

Sobald die Klassenidentität als ein kulturelles oder rassisches Attribut wahrgenommen wird, nimmt man diejenigen, die als kulturell oder rassisch unterschiedlich angesehen werden, oft als Bedrohung wahr. Daher rührt die wachsende Feindseligkeit gegen die Einwanderung. Immigration ist zum Medium geworden, in dem viele aus der Arbeiterklasse das Gefühl des Verlusts von sozialem Status wahrnehmen. Verschärft hat sich diese Wahrnehmung durch das veränderte Verhältnis zwischen Arbeiterklasse, Linken und der extremen Rechten. Sozialdemokratische Parteien in Europa haben sich von ihren alten Stammwählern aus der Arbeiterklasse entfernt. Großen Teilen der Arbeiterklasse fehlten daher gerade in dem Moment poli­tische Fürsprecher, als ihr Leben prekär, Arbeitsplätze rar, öffentliche Dienste zerstört, Sparmaßnahmen durchgesetzt und die Ungleichheit verschärft wurden.