Lynchmorde an Schwarzen in den USA

Roter Sommer, weißer Terror

Seite 2 – Ausschreitungen in Dutzenden Städten

Eine der Zeitzeuginnen von damals ist Juanita Mitchell, die mittlerweile 107 Jahre alt ist. Damals war sie noch ein kleines Mädchen, war gerade mit ihrer Familie nach Chicago umgezogen, sie wohnten bei Verwandten. »Ich weiß noch genau, wie groß die Angst war. Meine Mutter und meine Tante hatten Angst«, so Mitchell gegenüber den amerika­nischen Rundfunksender National Public Radio. »Ich werde niemals die Tränen in den Augen meiner Mutter vergessen.« Mitchells Onkel, ein Kriegsveteran, wollte seine Familie auf jeden Fall beschützen. Zusammen mit anderen Kriegsheimkehrern und Reservisten der Nationalgarde verschaffte er sich Schusswaffen und wehrte sich gegen den weißen Lynchmob. Mit Erfolg. Juanita Mitchell und ihre Familie über­standen die Ausschreitungen unbeschadet.

Dokumente des Schreckens. Lynchmord an Will Brown in Omaha, Nebraska. 

Bild:
Public Domain

In Chicago wurden 38 Menschen – 23 Schwarzen und 15 Weiße – er­mordet, mehr als 350 trugen Verletzungen davon. Die Bilanz des »Roten Sommers« war erschreckend. In etwa drei Dutzend Städten war es zu Ausschreitungen gekommen, in der Kleinstadt Elaine im Bundesstaat Arkansas schätzte man die Zahl der Mordopfer auf bis zu 240, in der Bundeshauptstadt Washington kamen 15 Menschen zu Tode. Die Gewaltakte kann man als die Kulmination der Übergriffe, wie es sie bereits seit Jahrzehnten gab, verstehen. Angefangen mit der »Reconstruction«, dem Wiederaufbau nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, waren von 1877 bis 1950 knapp 4.400 afroamerikanische Männer, Frauen und Kinder von weißen Mobs erhängt, erschossen, ertränkt, bei lebendigem Leibe verbrannt oder zu Tode geprügelt worden.

Es war der Versuch, das erwachende politische Selbst­bewusstsein der afroamerikanischen Bevölkerung mit Terror abzuwürgen. Doch in Chicago im Jahre 1919 hatte man die Angriffe der Weißen mit Erfolg zurückgeschlagen. So war der »Rote Sommer« auch der Auftakt der  wachsenden Autonomie von Afroamerikanern, zumindest in Großstädten wie Chicago und New York. In Harlem begann 1920 die Harlem Renaissance, im ganzen Land wurden schwarze Zeitungen gegründet, die neuen Massenmedien begünstigten politischen Aktivismus.