Holocaust und Kolonialismus

Einebnung von Unterschieden

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Solche politischen und geographischen Aspekte vermochten den Anspruch der Überlegenheit über andere weiße „Rassen“ deutlich besser zu tragen, worüber der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die slawische Bevölkerung Osteropas schon plausibler zu erklären wäre. Die Politik der verbrannten Erde, die der sowjetische Spielfilm »Komm und sieh« (1985) am weißrussischen Beispiel erschütternd schildert, ist der untrügliche Beweis dafür, dass der deutsche Rassismus des 20. Jahrhunderts bevorzugt an »Weißen« ausagiert wurde, was wiederum laut postkolonialer Theorie weder sein darf, noch von aktuellen antirassistischen Überzeugungen als Rassismus anerkannt wird.

Überschneidungen zwischen den historischen Phänomenen Kolonialismus und Nationalsozialismus – beispielsweise das in Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Samoa per administrativem Dekret erlassene Verbot von Eheschließungen zwischen Deutschen und Angehörigen der lokalen Bevölkerungsgruppen, oder auch die Vernichtung der serbischen Juden nicht etwa durch die SS, sondern durch die Wehrmacht – ändern nichts an den Unterschieden zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus. Dass es eben nicht möglich ist, »mittels biopolitischer Kategorien den eliminatorischen Antisemitismus der Nazis und den NS-Rassismus zu erfassen oder zu erklären«, wie Klävers treffend urteilt, wird in der postkolonial ausgerichteten Holocaustforschung schlicht unterschlagen. Ein damit korrespondierendes Theoriemodell ist jenes von Giorgio Agamben, dessen in »Homo sacer« ausgeführte Überlegungen zum Wesen des »nack­ten Lebens« und des Lagers den Unter­schied zwischen Ausnahmezustand und Regel suspendiert haben – es gäbe demnach »zwischen Auschwitz und anderen Arten von ›Lagern‹ nur graduelle Unterschiede, sie seien allesamt Ausdruck ›einer Politik‹«, wie in »Decolonizing Auschwitz?« zu Recht moniert wird.

Diese Tendenz zur rückwirkenden Einebnung von Unterschiedlichem, aus dem dann unweigerlich eine moralische Verpflichtung für die Zukunft abgeleitet wird, die tatsächlich bestenfalls befremdlich ist, hat sich längst auch andernorts bemerkbar gemacht. Im Juni hat die US-amerikanische demokratische Kongressabgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez die Sammeleinrichtungen, die in den Vereinigten Staaten genutzt werden, um illegal Eingewanderte ein­zupferchen, als »Konzentrationslager« bezeichnet – und den Nachsatz angefügt, dass »Nie wieder« in der Gegenwart auch etwas zu heißen habe, womit sie keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihre Worte in Hinblick auf den Nationalsozialismus gewählt hatte.