Der Kibbuz und der Kollektiv­gedanke

Israels erstes Start-up

Vom sozialistischen Utopia zur Hightech-Industrie – die Kibbuz-Bewegung hat einen langen Weg hinter sich. Einige Ideale sind dabei auf der Strecke geblieben.

An der Einfahrt zum Kibbuz Degania steht ein Panzer, das Geschützrohr auf die Ortschaft gerichtet. Hübsche alte Bäume säumen die Straße, überall blühen Blumen. Zwölf zionistische Pionierinnen und Pioniere siedelten 1910 nahe dieser Stelle, an der der Jordan aus dem See Genezareth fließt. Sie gründeten den ersten Kibbuz, die »Mutter der kollektiven Siedlungen« im damaligen Palästina.

... wie heute. In Degania ist der Speisesaal das Herzstück des Kibbuz.

Bild:
Stephanie Schoell

Trotz des auf ihn gerichteten Geschützes besteht für den Kibbuz keine Gefahr. Das Militärgerät ist seit über 70 Jahren außer Betrieb. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg griff die syrische Armee mit diesem und zwei weiteren Panzern Degania an. Joseph Baratz, einer der Gründer der Kollektivsiedlung, beschreibt in seinem Buch »Siedler am Jordan«, wie die schlecht bewaffneten Kibbuzniks an dieser strategisch wichtigen Stelle den syrischen Vormarsch ins Jordan-Tal und nach Galiläa unter anderem mit einem Molotowcocktail aufhielten, der den Panzer traf. In den darauffolgenden Jahrzehnten diente das Wrack den Kindern des Kibbuz als Klettergerüst; es rostete und wurde von Pflanzen überwuchert, bis es schließlich mit Rostschutzfarbe konserviert und als Denkmal eingefasst wurde. So erinnert das Kriegsgerät an dieser Stelle an die wichtige Rolle, die die Kibbuzim nicht nur bei der zionistischen Besiedlung, sondern auch bei der Verteidigung der Siedlungen und später des Staats spielten.

Vor allem aber galten die Kibbuzim einstmals, mit Ausnahme einiger ­weniger religiöser Varianten, als Wirklichkeit gewordenes sozialistisches Utopia. Getreu dem Marx’schen Diktum »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« steckten die Kibbuzim alle Einnahmen in eine gemeinsame Kasse, aus der sie auf Basis demokratischer Entscheidungen auch alle Ausgaben bestritten. Kranke, Rentner oder Kinder wurden genauso aus der gemeinsamen Kasse unterhalten wie Arbeitende. Viele Aktivitäten des täglichen Lebens, vom Mittagessen bis zur Kindererziehung, wurden kollektiv organisiert. Frauen und Männer ­waren, zumindest formell, vollkommen gleichberechtigt. Weltweit waren viele Menschen von dieser Kibbuzidee fasziniert, seit den fünfziger Jahren kamen Jahr für Jahr Tausende als Freiwillige zum Helfen in die Kibbuzim. Doch im Laufe der Jahrzehnte hat sich viel geändert.

 

Yechezkel Dar kam 1943 aus Osteuropa nach Degania. »Damals war hier alles viel kleiner«, erinnert er sich. Der rüstige 87jährige war früher Kibbuzsekretär in Degania. Lange arbeitete er auch als Soziologieprofessor an der Universität in Jerusalem. Dass Kibbuzniks außerhalb ihrer Siedlung arbeiteten, war früher die Ausnahme – mittlerweile ist es nicht ungewöhnlich. »Von unseren etwa 340 Mitgliedern arbeiten ungefähr 130 außerhalb des Kibbuz«, sagt Dar im Gespräch mit der Jungle World. Der für viele Kibbuzim so typische Landwirtschaftsbetrieb existiert hier trotzdem noch immer. Neben Bananen-, Oliven- und ­Zitrusplantagen gibt es einen Milchbetrieb mit mehreren Hundert Kühen, eine Fabrik, eine eigene Schule und ein Museum.

Heutzutage gibt es in Israel etwa 280 Kibbuzim mit ungefähr 170 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Doch nur noch etwa 55 dieser Siedlungen, weniger als 20 Prozent, seien noch nach dem traditionellen Kollektivkonzept organisiert, sagt Michal Palgi der Jungle World. Die Professorin forscht an der Universität Haifa zu Kibbuzim. ­Palgi zufolge beheimaten diese zwar weniger als zwei Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung, ihr Anteil an der Industrieproduktion des Landes betragt aber neun Prozent, an der Landwirtschaft sogar 40 Prozent.

Die Prinzipien des Kollektiveigentums, der gegenseitigen Verantwortung, der demokratischen Selbstverwaltung und Ämterrotation, später auch der Kollektiverziehung in eigenen Kinderhäusern gab die Mehrheit der Kib­buzim seit den achtziger Jahren in unterschiedlichem Maß zugunsten einer eher privatwirtschaftlichen Organisation auf. Manche von ihnen ähneln mittlerweile ganz normalen Dörfern, in denen lediglich die Infrastruktur vergleichsweise gut ausgebaut ist; ihre Mitglieder bezahlen nur noch eine Art Gebühr oder Extrasteuer für Gemeinschaftseinrichtungen wie Kinder­gärten oder Schwimmbad. Sogenannte Kibbuz-Neighbourhoods sind nach der großen Abwanderung junger Kibbuzniks um die Jahrtausendwende mittlerweile auch bei nicht kollektiv erzogenen Israelis äußerst beliebt, vor allem da Kibbuzschulen und -kindergärten bei jungen Eltern einen ­guten Ruf genießen und das Leben im Vergleich zu dem im urbanen Israel eher günstig ist.

Udi Peled, Kibbuznik der zweiten Generation im nahe Haifa gelegenen Ramat Yochanan, sagt im Gespräch mit der Jungle World, dass es in seinem Kibbuz noch immer die traditionelle Organisationsweise gebe. Traditionell heißt kollektivistisch, die umfangreich oder teilweise privatisierten Kibbuzim heißen »erneuert« oder »reformiert«. Wobei der Kollektivismus in Ramat Yoch­ahan Reichtum keineswegs ausschließt. Der Kibbuz ist Forbes zufolge der sechstreichste Israels. Der kibbuzeigene Betrieb Palram besitzt inzwischen weltweit Fabriken zur Herstellung von Kunststoffplatten, unter anderem im sachsen-anhaltinischen Schönebeck. Auch Netafim, einer der größten Hersteller für künstliche Bewässerungsysteme weltweit, und das Rüstungsunternehmen Plasan, das unter anderem das israelische Militär und die US-Armee mit gepanzerten Fahrzeugen beliefert, waren oder sind im Besitz von Kibbuzim.

 

Dabei standen in den achtziger Jahren viele Kibbuzim finanziell am Abgrund, die sich wegen der Wirtschaftskrise und der hohen Inflation in Israel überschuldet hatten. Mittlerweile lebten dort bereits die dritte und vierte Generation der Kibbuzniks, viele von ihnen strebten eine individuellere Lebensweise an. Der Staat übernahm einen Großteil der Schulden und viele Kibbuzbetriebe bekamen ein professionelleres Management – beides zusammen sorgte dafür, dass einige Kibbuzim mittlerweile sehr wohlhabend sind.

Panzer zu Spielzeugen. Ein im Museum von Degania ausgestelltes Kinderbuch.

Bild:
Carl Melchers

Eines der Prinzipien der sozialistisch geprägten Kibbuzgründer war, keine fremden Arbeiter anzustellen, also auszubeuten, sondern sich allein auf die Arbeitskraft der Mitglieder zu verlassen. Aus diesem Grund arbeiteten die Kibbuzniks viele Jahrzehnte lang ausschließlich im eigenen Kibbuz: auf den Feldern und Plantagen, in der Milch- und Geflügelwirtschaft, im Speisesaal, in der Wäscherei, beim Hausbau oder bei der Kindererziehung.

Erst als die Kibbuzim in den sechziger Jahren begannen, Industrie aufzubauen, wurde der Einsatz von Arbeitskräften von außerhalb unabdinglich. In vielen mehr oder minder privatisierten Kibbuzbetrieben kam zudem seit der Jahrtausendwende ein erhöhter Bedarf nach externen Arbeitskräften hinzu, weil viele der Kibbuzniks sich einträglichere Arbeitsplätze außerhalb des Kibbuz suchten. Deswegen werben viele Kibbuzim seit knapp zwei Jahrzehnten gezielt Arbeitskräfte aus Ländern wie den Philippinen und Thailand an, die auch die einstmals ureigenen ­Kibbuzarbeiten, vor allem in den Milchbetrieben und bei der Alten- und Kinderpflege, verrichten. Maya Peretz von der Gewerkschaft Koah LaOvdim sagte der Jungle World, dass diese Arbeiterinnen und Arbeiter einen prekären Aufenthaltsstatus hätten und im Vergleich zu den Kibbuzniks schlecht bezahlt würden. Die Kibbuzim sähen zudem die gewerkschaftliche Organisierung dieser Arbeitskräfte nicht gern.

Währenddessen steigen immer mehr Kibbuzniks in die Start-up-Branche ein und arbeiten in Hightech-Unternehmen – oder gründen gleich selbst welche. Die nötigen soft skills besitzen sie jedenfalls: »Kibbuzniks sind bei Arbeitgebern sehr beliebt, weil sie ein hohes Arbeitsethos besitzen, auf vielen Gebieten Erfahrung haben und sich zu helfen wissen«, erklärt Michal Palgin. In einem kurzen Film, der in Degania ­Besuchern gezeigt wird, sagt ein kleines Mädchen, als eine Kibbuzveteranin ihr von der Gründung der Siedlung erzählt: »Ach so – ein Kibbuz ist wie ein Start-up!«