Gespräch mit Eiman Seifeldin über die Rolle von Frauen bei den Protesten im Sudan

»Frauen stellen die Mehrheit auf der Straße«

Eiman Seifeldin, sudanesische Oppositionelle, über die Rolle der Frauen bei den Protesten gegen das islamistische Regime im Sudan.
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Kann sich die Opposition im Sudan doch noch durchsetzen? Mitte August ratifizierten Offiziere und Vertreter der Demokratiebewegung eine Verfassungserklärung, die den Übergangsprozess regeln soll. International wurde dies als wichtiger Schritt zur Demokratisierung eingestuft. Teilen Sie diese Ansicht?
Dieses Abkommen, das vom militärischen Übergangsrat (TMC) und den Forces of Freedom and Change (FFC) verabschiedet wurde, wird nicht zum demokratischen Wandel führen, der das eigentliche Ziel der Protestierenden gewesen war. 30 Jahre lang hatte die Bevölkerung unter der Korruption des Regimes von Omar al-Bashir gelitten, das vor allem den Bürgerkrieg finanziell am Laufen hielt. Die Protestierenden haben beharrlich Druck ausgeübt, um einen wirklichen demokratischen Wandel zu erreichen. Massen von Menschen, in den großen Städten und Dörfern überall im Sudan, haben sich organisiert und demonstriert. Der Haupt­slogan dieser Bewegung war: Die Menschen verlangen Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.
Auf der Grundlage der Verfassungserklärung lässt sich das nicht umsetzen, dafür enthält sie zu viele grundlegende Fehler. Sie räumt dem Militär zu viel Macht ein. Dazu kommt, dass die Erklärung mit den Rapid Support Forces (RSF) (Schnelle Unterstützungstruppe, eine für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Miliz, Anm. d. Red.) eine zusätzliche nationale Streitkraft anerkennt, neben der regulären Armee. Mit der neu eingerichteten Position eines stellvertretenden Generals hat man Hamdan Dagalo zum obersten Befehlshaber gemacht. Das heißt, die Vereinbarung ermöglicht es seinen Milizen, legal aktiv zu sein.

Mohammed Hamdan Dagalo war verantwortlich für Massaker in Darfur, er befehligt die RSF, deren Mili­zionäre am 3. Juni bei der Auflösung der Blockaden der Protestbewegung viele Demonstrierende getötet oder verschleppt und viele Frauen vergewaltigt haben. Handelte es sich um eine Racheaktion speziell auch an Frauen, die eine große Zahl der Protestierenden stellen?
Das war nicht bloß eine Racheaktion, es gehört zur Systematik und Ideologie der RSF, Vergewaltigung und sexuelle Erniedrigung von Frauen als Kriegswaffe einzusetzen. Das ist schon im Darfur-Krieg geschehen, wie viele ­Berichte belegen, unter anderem von Ärzte ohne Grenzen. Ich betrachte die Ereignisse vom 3. Juni als Kriegsverbrechen. Mindestens 70 Menschen wurden vergewaltigt, darunter auch fünf Männer, wie das Sudan Doctor’s Syndicate erklärt hat. Und die Zahlen steigen immer noch. Frauen wurden in Haftzentren vergewaltigt, um sie zu foltern – und davon abzuhalten, wieder hinauszugehen, um zu demonstrieren. Das ist so, weil das Regime die Kraft der sudanesischen Frauen fürchtet – Frauen stellen die Mehrheit auf der Straße dar, nicht Männer.

 

Dagalo war auch Kommandeur der berüchtigten Janjaweed, einer Miliz, die während des Darfur-Kriegs genozidale Kriegsverbrechen beging und aus der die RSF gebildet wurden. Wie groß ist die Bedrohung durch solche Kräfte?
Als 2017 der Karthoum-Prozess einsetzte und al-Bashirs Regime Mittel zur Grenzsicherung erhielt, um Flüchtlinge an der Flucht nach Europa zu hindern, hat das Parlament das sogenannte Rapid-Support-Forces-Gesetz verabschiedet – und die Janjaweed unter neuem Namen, RSF, eingesetzt. Die Kriegsverbrechen der Janjaweed – im Sudan nennt man die RSF weiterhin so – in Darfur sind bekannt und von den UN dokumentiert worden: Massaker an der Zivilbevölkerung, systematische Vertreibungen und Ver­gewaltigungen. Was sie in Darfur angerichtet haben, tun sie bis heute unter dem Namen RSF. Der jüngste Vorfall war am 18. August, zwei Mädchen im ­Alter von neun und 13 Jahren wurden vergewaltigt. Daher wird auch der Friedensprozess scheitern, solange die beiden Verhandlungspartner die Janjaweed beziehungsweise RSF nicht entwaffnen und demobilisieren. Es droht die Wiederkehr des alten Systems von al-Bashir. Dagalo und seine Milizen dienten und dienen zur Aufrechterhaltung eines islamischen Regimes, unter al-Bashir und bis heute. Zudem haben islamische Gruppen wie al-Bashirs Regierungspartei National Congress Party (NCP) und die Popular Congress Party (PCP), die kürzlich eine Schattenregierung angekündigt hat, verschiedene Milizen, etwa den National Intelligence Security Service (NISS) und die Popular Defense Forces (PDF). Dazu kommen weitere Milizen, die unter al-Bashir operierten und noch aktiv sind.

Für die extrem hohe Beteiligung von Frauen an der Protestbewegung wurde das Bild der Studentin Alaa Salah, die eine große Ansammlung Demonstrierende agitierte, sym­bolisch. Aus welchen gesellschaftlichen Schichten kommen all die Frauen, aus welchen Motiven protestieren sie?
Die meisten Frauen sind arm und kommen aus den unteren, sozial benachteiligten Schichten, wie auch die Mehrheit der Demonstrierenden. Dass mehrheitlich Frauen demonstriert ­haben, liegt in ihrer Unterdrückung durch das islamische Regime der Sharia und die »Gesetze der öffentlichen Ordnung« begründet, die auf die Zeit der Diktatur al-Bashirs zurückgehen. Mit dem Public Order Act hatte er ein islamisches Regime eingesetzt, das bis heute von den Milizen aufrechterhalten wird. Dieses zielt hauptsächlich auf Frauen, mit zahlreichen Gesetzen und Restriktionen, die auf die Einschränkung aller Aspekte ihres Lebens zielen: so­zial, ökonomisch und politisch.

Wie sehen diese Beschränkungen aus?
Frauen wurde es untersagt, allein zu reisen oder ohne Begleitung auf die Straßen zu gehen, ihr Sozialleben wurde eingeschränkt, ihre indi­viduelle Freiheit attackiert. Die Islamisten haben Polygamie, Frühverheiratung, weibliche Genitalverstümmelung (im Sudan betrifft dies über 80 Prozent der Frauen, eine der höchsten Raten weltweit, Anm. d. Red.) und vieles mehr gefördert.
Es gibt ein völlig ungerechtes Familienrecht, eine Frau kann sich kaum scheiden lassen. Sie ist gezwungen, bei ihrem Ehemann zu bleiben – geht sie weg, kann sie von der Polizei aufgegriffen und zum Ehemann zurückgebracht werden. Polizei und Ehemann besitzen die Autorität, die Frau zu Hause einzusperren. Dieses Regime, das von Saudi-Arabien unterstützt wird, hat zudem neue Eheformen eingeführt, unter anderem die mut’ah- und die misyar-Ehe (»Lust-« und »Durchreise-Ehe«), die durch einen Kurzzeitvertrag geschlossen werden, ohne jegliche Verpflichtung für den Mann, selbst wenn Kinder daraus hervorgehen. Dadurch werden junge Mädchen aus armen ­Familien Opfer ihrer finanziellen Notlage, wenn sie zur »Heirat« vergeben werden.
Des Weiteren haben Frauen Statistiken zufolge insgesamt mehr als drei Millionen Peitschenhiebe erhalten, weil sie Hosen trugen oder auf andere Art gegen die »Gesetze der öffentlichen Ordnung« verstoßen hätten. Seit dem ­Public Order Act haben nach Informationen des Netzwerks AYIN, einer un­abhängigen sudanesischen Medienorganisation, die zuständigen Gerichte durchschnittlich 135 Millionen Sudanesische Pfund (umgerechnet rund 2,7 Millionen Euro, Anm. d. Red.) an Bußgeldern eingenommen, mehr als 43 000 Frauen jährlich sind strafrechtlich verfolgt, willkürlich festgenommen und zur Polizeistation gebracht worden, wo man sie schlägt, erniedrigt, mit Bußgeld belegt und zwingt, Verpflichtungen zu unterschreiben, keine Hosen oder kurzen Kleider mehr zu tragen.

 

Welche Gründe für die Beteiligung der Frauen an den Protesten gab es noch?
Neben der Unterdrückung durch die Sharia beziehungsweise die »Gesetze der öffentlichen Ordnung« ist das ihre ökonomische Ausgrenzung. Es gibt Arbeitsverbote für Frauen, selbst im Kleinhandel, etwa beim Tee- oder Essensverkauf auf der Straße oder an Tankstellen. Als dieses Regime sich etablierte, entließ es massenhaft Frauen, etwa im Bildungsbereich. Sie wurden auf die Straße gesetzt, ohne Möglichkeit, einen anderen Beruf auszuüben. Besonders gefährdet sind Frauen in ländlichen Gebieten. Viele arbeiten unbezahlt mehr als 15 Stunden am Tag im landwirtschaftlichen Sektor, von frühmorgens bis spätabends, danach arbeiten sie zu Hause weiter im Haushalt – und das hart verdiente Geld fließt direkt an den Ehemann. Hinzu kommt die Bedrohung durch die Janjaweed, die Frauen vergewaltigen, wenn sie sie beim Sammeln von Feuerholz oder auf dem Weg zur Farm aufgreifen.
Die Frauen haben feststellen müssen, dass sie unter einem sehr radikalen islamischen Regime viel zu lange zu leiden hatten, während dieses Regime und seine Unterstützer stets behauptet haben: Der Islam respektiert die Frau. Das ist nicht wahr. Frauen sagen: Jetzt wollen wir unsere Freiheit, wir brauchen Veränderung! Ich sehe die Frauen in dieser Revolution als die Akteurinnen für Frieden in Sudan, weil Frauen das größte Interesse an einer tiefgreifenden Veränderung haben.

Was sind die politischen Forderungen der Frauen?
Die Frauen sind für ein Leben in Würde auf die Straße gegangen. Für eine Verfassung, die ihnen gleiche Rechte und Macht wie den Männern garantiert, die ihr Geschlecht respektiert, gleiche Partizipation am sozialen Leben zugesteht, um ihr Leben zu verbessern. Und um die oktroyierten islamischen Regeln aufzuheben, um ihre Freiheit zu erlangen.