Der britische Premierminister Boris Johnson beharrt auf einem EU-Austritt am 31. Oktober

Lieber tot in einem Graben

Das Oberste Gericht in London hat die Vertagung des Parlaments für nicht rechtmäßig erklärt. Unterdessen rätseln viele Briten darüber, wie weit Premierminister Boris Johnson gehen wird.

Die Queen ist wohl not amused. Königin Elisabeth II. scheint von Boris Johnsons möglicherweise ganz bewusst als Figur in politischen Schachzügen benutzt worden zu sein. Das zumindest werfen viele Oppositionspolitiker dem britischen Premierminister vor. Johnson hatte Anfang September eine mehr­wöchige Vertagung des Parlaments (prorogation) gefordert, die der formalen Zustimmung des Staatsoberhaupts bedurfte – und dafür möglicherweise falsche Gründe angegeben.

Die neue Sitzungsperiode sollte erst am 15. Oktober beginnen. Nicht beschlossene Anträge hätten dann, zwei Wochen vor dem anberaumten Austrittstermin aus der EU, neu eingereicht und verhandelt werden müssen. Viele halten ist diese prorogation für unrechtmäßig, da sie dazu diene, dem Parlament die Mitsprache bei und Diskussion über die Bedingungen des EU-Ausstiegs unmöglich zu machen. Deshalb beschäftigten sich die höchsten britischen Gerichte mit dem Fall.

Nachdem eine Klage am High Court in London gegen die Suspendierung des Parlaments abgewiesen worden war, erklärte das oberste Gericht Schottlands, der Court of Sessions, die Parlamentsvertagung am 11. September für rechtswidrig. Während der High Court befand, dass es sich um ein ­politisches, nicht um ein juristisches Problem handele und die prorogation daher nicht von einem Gericht aufgehoben werden könne, sah das schottische Gericht es anders: Johnson habe mit der prorogation ein »ungebührliches Ziel« verfolgt. Gegen dieses Urteil legte die Regierung Berufung ein, die vor dem Obersten Gerichtshof, dem Supreme Court in London, verhandelt wurde.

Nach einer dreitätigen Anhörung in der vergangenen Woche nahm sich der Supreme Court unerwartet viel Zeit, um ein Urteil zu fällen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Es ist in Großbritannien unüblich, dass Gerichte über Gesetze oder parlamentarische Verfahrensweisen urteilen. Deshalb erklärte der High Court sich auch für nicht zuständig, Repräsentanten der Regierung legten dies auch dem Supreme Court nahe. Schließlich verletzt die prorogation keine niedergeschriebene Regel.

Großbritannien hat keine Verfassung, die mit der anderer westlicher Staaten vergleichbar wäre. Das britische System beruht vielmehr auf dem Gewohnheitsrecht sowie einer Vielzahl von Konventionen, Statuten und Gerichtsentscheidungen. Gegen dieses Gewohnheitsrecht aber, so die andere Rechtsauffassung, habe Johnson verstoßen. Er schickte die Abgeordneten in den Zwangsurlaub, nachdem mehrere seiner Anträge im Parlament abgelehnt worden waren – und die offizielle Begründung des Premierministers, die Regierung brauche die Zeit, um neue Gesetze vorlegen zu können, ist kaum glaubwürdig.

Sollte es vor dem EU-Austritt Neuwahlen geben, wäre dieser das wichtigste Thema.

Allerdings hat das Unterhaus schon vor der prorogation die wichtigste Entscheidung getroffen und einen EU-Austritt ohne Abkommen untersagt. Dies halten wiederum die Tories für regelwidrig. Einige betrachten das ­Gesetz als Symptom einer liberalen Verschwörung gegen den »Willen des Volkes«, das im Referendum 2016 mehrheitlich für den EU-Austritt gestimmt hatte. Im Debattenbeitrag des Tory-Abgeordneten Jacob Rees-Mogg schwangen antisemitische Untertöne mit. Er sprach von einer Untergrabung der Exekutive und bezeichnete die Unterstützer der Gesetzesvorlage als »Illuminati, welche die Macht an sich reißen«. Johnsons harte und autoritäre ­Linie erhält die Unterstützung rechter Parteien und Gruppen. Nigel Farage, Vorsitzender der rechten Brexit-Partei, wiederholte sein Angebot, einen Wahlpakt mit den Konservativen zu schließen, sollte es zu Neuwahlen kommen.