Hillel Frisch, israelischer Politologe, im Gespräch über die Rivalität zwischen den islamistischen Gruppen im Gaza-Streifen

»Salafistische Organisationen hassen die Hamas«

Religiös und politisch prägen zwei Konflikte die gesamte Region: der zwischen Schiiten und Sunniten und der zwischen Muslimbrüdern und Salafisten. Welche Rolle spielen diese Gegensätze im Gaza-Streifen?

Zunächst zwei wichtige Beobachtungen, zumindest aus meiner Sicht. Die Macht von terroristischen Gruppen hängt immer davon ab, wie viel Unterstützung sie von Staaten erhalten. Im Widerspruch zu marxistischer Ideologie und jenen, die an einen transna­tionalen Kapitalismus glauben, leben wir in einer Welt der Staaten; die po­litische Macht haben immer noch Staaten inne.

Der »Islamische Staat«, ein mächtiges gesellschaftliches Phänomen, ist zerstört. Die Hizbollah hingegen, die nicht einmal bei der Mehrheit der Schiiten im Libanon populär ist, überlebt seit 35 Jahren und ist sehr stark, denn sie hat ein relativ starkes Land hinter sich, den Iran.

Terroristische Organisationen oder nichtstaatliche Organisationen, wie immer man sie bezeichnen mag, hatten gegen starke Staaten nie Erfolg. Ihre Macht resultiert gewöhnlich aus der Qualität der Unterstützung, die sie von existierenden Staaten erhalten.

Was ist Ihre zweite Beobachtung?

Der politische Islam ist generell im Niedergang. Es gibt einige Anzeichen dafür. Dieses Jahr gab es enorme Proteste in zwei Ländern, im Sudan und in Algerien. Das ist eine Art Fortsetzung des »arabischen Frühlings«. Und es gibt keinen islamischen Inhalt in diesen Protesten, im Gegensatz zu früheren Wellen des Protests, in denen der politische­ Islam eine Rolle spielte.

Ein weiteres Anzeichen, zumindest in dieser Region, lieferte der Tod von Mohammed Mursi, dem früheren ägyptischen Präsidenten von der Muslimbruderschaft. Es gab kaum einen dramatischeren Moment in jüngster Zeit. Er starb vor Gericht, in einem Käfig, er war offenbar schwer misshandelt worden. Doch sein Tod rief kaum Reaktionen hervor.

Was bedeuten diese Beobachtungen für die Lage im Gaza-Streifen?

Die Hamas ist viel mächtiger als jede salafistische Organisation, denn sie hat einen gewissen Rückhalt beim Iran und von der Türkei. Die Salafisten haben keinerlei Rückhalt. Die salafistischen Organisationen werden weiter bestehen, und offensichtlich waren die jüngesten Tötungen sehr professionell.

Sie meinen die zwei Selbstmordanschläge auf Checkpoints im Gaza-Streifen Ende August, bei denen drei Hamas-Polizisten getötet wurden?

Genau. Ihre Urheber werden noch immer gesucht.

Bei Zellen, die solche individuellen Attacken verüben, gibt es Unterschiede: Manche sind exzellent organisiert, manche mittelmäßig, andere einfach fürchterlich.

Nach verheerenden Anschlägen solcher Zellen fragen mich israelische Journalisten oft: Ist das der Beginn einer weiteren Intifada? Nein, sage ich dann. Aus einer einzelnen Attacke kann man das nie ableiten, auch wenn ein solcher Anschlag bedeutet, dass die Hamas in ihrer Überwachung lax war und dass die Täter ihr Geschäft verstehen.

Wie ist das Verhältnis zwischen salafistisch-jihadistischen Gruppen und der Hamas, die aus der Muslimbruderschaft hervorging?

Es ist sicher, dass salafistische Organisationen die Hamas hassen. Im Spätsommer 2009 etwa tötete die Hamas 28 Salafis, sogar Raketenwerfer wurden eingesetzt, es gab schreckliche Bilder. Doch die Hamas ging unbeschadet daraus hervor, denn die Salafis haben keine mächtigen Länder hinter sich. Vielleicht bekommen sie ein wenig Geld von Saudi-Arabien, vielleicht von den Vereinigten Arabischen Emiraten, aber auf indirektem Weg. Sie sind kein ebenbürtiger Gegner für die Hamas, bei der einige militärische Anführer wahrscheinlich im Iran trainiert wurden.

Wegen des Bürgerkriegs in Syrien gab es vor einigen Jahren ein Zerwürfnis zwischen der Hamas und dem Iran. Was hat sich seither ­daran geändert?

Das war 2012, als die Hamas-Führung von Syrien nach Katar umzog. Das Verhältnis zwischen der Hamas und dem Iran wurde mittlerweile runderneuert, das zeigen die Besuche von Moussa Abu Marzouk (Mitglied des Politbüros der Hamas, Anm. d. Red.) im Iran. Ich denke, es gibt militärisch eine gewisse Kontinuität im Verhältnis zwischen der Hamas und dem Iran. Politisch ist die Lage angespannter. Das syrische Regime hat seine Unterstützung der Hamas eingestellt. Aber das syrische und das iranische Regime sind nicht vergleichbar.

In den vergangenen Monaten gab es Spekulationen, dass der Islamische Jihad, mit einigen Tausend Mitgliedern die zweitgrößte bewaffnete Gruppe im Gaza-Streifen, wegen seiner guten Kontakte zum Iran eine größere Rolle im Gaza-Streifen spiele. Wie sehen Sie das?

Es gibt eine falsche Vorstellung vom Islamischen Jihad. Die Organisation kann sich niemals mit der Hamas messen. Auch wenn der Islamische Jihad in der palästinensischen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad respektiert wird, ist er zugleich suspekt, verdächtig wegen seiner Nähe zum und seiner ­Abhängigkeit vom schiitischen Iran. Und die Palästinenser sind sunnitisch.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Hamas mit ihren Sicherheitskräften über 20 000 bis 30 000 Personen verfügt. Sie sind trainiert, es gibt eine Militär- und eine Polizeischule. Bei ­allen Kraftproben mit der Hamas hat sich der Islamische Jihad zurückgezogen. Er hat keine Massenbasis. Bei Wahlen an palästinensischen Universitäten etwa hat er regelmäßig einen Stimmenanteil von lediglich zwischen zwei und drei Prozent, im Vergleich zu etwa 30 Prozent der Fatah beispielsweise.

Gibt es eine neue Entwicklung im Verhältnis zwischen der sunnitischen Hamas und der schiitischen Hizbollah im Libanon?

Bislang arbeiten sie nicht zusammen. Wenn es eine Eskalation zwischen Israel und der Hamas gab, verhielt sich die Hizbollah ruhig. Gab es einen Krieg zwischen der Hizbollah und Israel, blieb die Hamas ruhig.

Doch das vorrangige Ziel des Iran ist eine Art Belagerung Israels mittels Raketen. Hauptsächlich nutzt der Iran die Hamas, um zu versuchen, eine Krise an der Südgrenze zu provozieren; das Israel von der Nukleardrohung des Iran und seinen terroristischen Bestrebungen ablenken soll. Deswegen macht Benjamin Netanyahu im Süden nichts. Er will den Iran attackieren, sowohl durch Sanktionen als auch in Syrien und dem Irak, in dem Wissen, dass, sollte er die iranischen Möglichkeiten einschränken können, die Hizbollah und die Hamas unbedeutende, nicht sehr effektive Terrororganisationen werden würden. Das Beste wäre ein regime change im Iran, inshallah.

Hillel Frisch hat eine Professur für Politologie und Middle East Studies an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan und ist Mitarbeiter des Begin–Sadat Center for Strategic Studies. Er gilt als Experte für die politische Entwicklung im Gaza-Streifen.