Über das Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus

Antizionismus und Antisemitismus

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Viele Linke haben diese Verleugnung der jüdischen Nationalität übernommen. Sie behaupten, dass ein jüdischer Staat ein religiöser Staat sei, so etwas wie eine katholische oder lutherische oder muslimische staatspolitische Formation, die kein Linker unterstützen könne. Aber die Reformjuden nahmen diese Position ein in dem Wissen, dass die meisten ihrer Mitjuden sie nicht teilten. Wenn die Nation ein tägliches Referendum ist, wie Ernest Renan sagte, haben die Juden Osteuropas in großer Mehrheit jeden Tag für sie ­gestimmt. Sie suchten nicht alle nach einer Heimat in Israel, aber auch die linken Bundisten, die auf Autonomie im zaristischen Reich hofften, waren jüdische Nationalisten.

Die frühen Reformer wollten die Richtung und den Charakter der jüdischen Geschichte ändern; sie waren sich dieser Geschichte bewusst. Linke, die gegen die Juden als Nationalität argumentieren, sind meist ignorant. Sie sind jedoch nicht die Opfer dessen, was katholische Theologen »unbesiegbare Unwissenheit« nennen. Also besteht Anlass zur Sorge, dass sie das, was sie nicht wissen, nicht wissen wollen.

Wenn sie interessiert wären, könnten sie etwas über die grundlegende Verflechtung von Religion und Nation in der jüdischen Geschichte erfahren – und über ihre Gründe. Man kann Religion nicht von Politik trennen, keine »Mauer« zwischen Kirche oder Synagoge und Staat errichten, wenn man keinen Staat hat. Der Zionismus war von Anfang an bestrebt, mit der Entflechtung zu beginnen und einen Zustand zu schaffen, in dem der Säkularismus erfolgreich sein konnte. Es gibt heutzutage jüdische Fanatiker in Israel, die sich dieser Anstrengung widersetzen – ebenso wie es hinduistische Nationalisten und muslimische Fanatiker gibt, die sich ähnlichen Bemühungen in ihren eigenen Staaten widersetzen. Man würde erwarten, dass Linke den Säkularismus überall verteidigen – was von ihnen verlangen würde, den Wert des ursprünglichen zionistischen Projekts anzuerkennen.

Ich möchte nicht behaupten, es sei ­antisemitisch, wenn jemand fälschlicherweise annimmt, dass das Juden­tum eine rein religiöse Angelegenheit sei. Aber die Weigerung, anzuerkennen, dass eine große Anzahl von Juden nicht religiös ist, erscheint etwas seltsam. Man nennt sie nicht »abgefallene Juden« (so wie man ungläubige Katholiken »abgefallen« nennt), sie sind einfach Juden. Die Annahme, dass es keine jüdische Nation gebe, zu der die Gläubigen und auch die Ungläubigen gehören, ist leicht zu korrigieren. Dass sie sich dennoch hält, muss einen Grund haben. Sie ermöglicht Linken, die so viele nationale Befreiungsbewegungen unterstützt haben, zu leugnen, dass der Zionismus eine solche Bewegung ist: Das könne nicht sein, weil es keine jüdische Nation gebe. Es ist also ein ­bequemes Argument – aber das ist kein guter Grund, es vorzubringen.