Der lange Kampf der Sinti und Roma

Emanzipation statt Ethnokitsch

Seite 2 – Ethnokitsch von links

Neben einer Solidarität, die sich wie im Falle Veils aus der Erfahrung einer gemeinsamen Verfolgungsgeschichte begründete, boten die Reden auf der Gedenkkundgebung aber auch Beispiele für kaum zu überbietenden Kitsch. Für die Grünen behauptete Delphine Brox, dass die Bürgerrechtler der Sinti und Roma »mit viel Mühe« um ein Recht kämpften, »das wir einmal alle gehabt haben«, nämlich »frei über diese Erde zu ziehen«, »Früchte zu sammeln« und »Tiere zu jagen«. Die grün-alternative Abgeordnete der Bremer Bürgerschaft knüpfte damit nahezu bruchlos an das alte Bild der heimatlos-nomadisierenden »Zigeuner« an – getrieben von der Faszination, gerne auch so anders und frei zu sein. »Von euch wollen wir lernen«, sagte sie, »und wir hoffen ein bisschen, dass auch ihr unsere Freunde sein wollt.«

Brox stand im links-alternativen Milieu der späten siebziger Jahre mit ihrer zivilisationsmüden Rhetorik, die in den von ihr als Vagabunden angesehenen ein neues Emanzipationssubjekt gegen »Beton«, »Privateigentum« und »Büros« entdecken wollte, nicht alleine da. In einem Vorwort Ernst Tugendhats für einen kurz vor der Gedenkkundgebung von der Gesellschaft für bedrohte Völker veröffentlichten Sammelband bezeichnete der Philosoph es als einen »Lichtblick«, dass »sich in Teilen unserer eigenen jüngeren Generation heute ein Bewusstsein entwickelt hat«, das »Werte wiederentdeckt, die denen der Zigeuner in mancher Hinsicht nahekommen«.

Ob es Widerspruch gegen diesen Ethnokitsch auf der Gedenkveranstaltung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen gab, ist nicht dokumentiert. Dennoch steht diese Haltung im Widerspruch zu den Positionen der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, die grundlegende Bürgerrechte und gesellschaftliche Teilhabe forderte. Vinzenz Rose, der bereits in den fünfziger Jahren erste Versuche unternahm, die überlebenden Sinti zu organisieren, sagte in diesem Sinne: »Wir sind es endlich leid, und wir wehren uns dagegen, weiter als Menschen zweiter, dritter Klasse behandelt zu werden. Wir sind deutsche Staatsbürger mit Pflichten, aber ohne Rechte.«

Die Gedenkveranstaltung zur Erinnerung des Genozids an den Sinti und Roma auf dem Lagergelände von Bergen-Belsen stellte eine erste wichtige Etappe auf dem Weg zur politischen Anerkennung eines bis dahin weitgehend verleugneten Kapitels deutscher Geschichte dar. Der damalige Bundesvorsitzende der FDP, Hans-Dietrich Genscher, sprach wie viele andere Politiker von einer »besonderen Verpflichtung«, die sich aus der »verbrecherischen Rassenpolitik« ergebe. Die Bundestagsabgeordneten Helga Schuchardt (damals ebenfalls FDP) nannte als einzige Bundespolitikerin das Problem beim Namen, »dass sich unsere Gesellschaft bisher in keiner Weise dem Völkermord« gestellt habe, »ja dass sie ihn vielfach noch nicht einmal als solchen erkannt hat oder sogar verdrängt«.

Um die politische Anerkennung des Genozids zu erreichen, sammelten die Internationale Romani-Union und der Verband deutscher Sinti in der Zeit vor der Gedenkveranstaltung Unterschriften für ein Memorandum, das im November 1979 an die Bundesregierung übergeben wurde. Darin forderten sie nicht nur die Anerkennung historischen Unrechts, sondern auch der fortgesetzten »Diskriminierung der deutschen und nach Deutschland geflüchteten Roma aus Osteuropa«, die »nach 1945 in der Bundesrepublik kein Ende« fand.