Regionale Ungleichheit in Deutschland

Abgehängte und Ängstliche

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Im wohlhabenden Starnberg in Oberbayern liegt die Lebenserwartung bei 83,4 Jahren – sechs Jahre höher als in Pirmasens, einer ehemaligen Industriestadt in Rheinland-Pfalz. In Stuttgart, München und in einem Gürtel, der von Südbaden über den Bodensee bis nach Berchtesgaden reicht, sind die Werte ähnlich gut wie in Starnberg. Ein viel kürzeres Leben haben Rentner hingegen in großen Teilen Ostdeutschlands und im Ruhrgebiet zu erwarten. Ungleichheit bedeutet nicht nur materielle Unterschiede, sondern existentielle Nachteile, »wenn sich die Frage stellt, ob der Notarzt nach dem Schlaganfall in fünf oder in 30 Minuten vor Ort ist«, wie es in der Studie heißt. Auch innerhalb derselben Region kann es ­erhebliche Unterschiede geben. In Berlin, das sich wie fast alle ostdeutschen Kommunen in der Kategorie »Großstädte mit Problemlage« wiederfindet, differiert die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen den Stadteilen ebenfalls um mehrere Jahre.

Die Territorialisierung der sozialen Frage erklärt jedoch nur bedingt die politischen Entwicklungen. Die weitverbreitete These, wonach die AfD hohe Wahlergebnisse vor allem in abgehängten ländlichen Gebieten Ostdeutschlands erziele, wo die »jungen weltoffenen Menschen alle weggegangen seien und die ›Westparteien‹ kaum hätten Fuß fassen können«, treffe nur teilweise zu, wie beispielsweise in Mansfeld-Südharz. »Die Jugendlichen sind weg, meine Kinder auch«, sagt einer der Befragten in der Studie. »Da ist Unzufriedenheit. (…) Dann gab es hier welche, die das aufnahmen.«

Die AfD erzielte allerdings auch in westdeutschen Städten wie Ludwigshafen oder Gelsenkirchen hohe Ergebnisse, also in Kommunen, die ebenfalls unter einer hohen Arbeitslosigkeit und einer nahezu totalen Deindustrialisierung leiden. Das Erklärungsmodell versagt zudem in Städten wie im württembergischen Heilbronn, wo die Einwohner vergleichsweise gut versorgt sind. »Auch das Ergebnis für Dresden, die Aufsteiger- und Wachstumsregion im Osten, ist schwer zu erklären.« Darüber hinaus konnten die Rechtspopulisten in Sachsen mit Abstand die meisten Wähler für sich gewinnen. »Dabei ist Sachsen aber mitnichten das am stärksten ›abgehängte‹ Bundesland«, wie die Autoren der Studie feststellen.

Ein besonders deutliches Beispiel liefert der schwäbische Ostalbkreis. Die Region liegt am östlichen Rand des Stuttgarter Speckgürtels und weist in fast allen Indikatoren der Studie ausgezeichnete Ergebnisse auf. Das Einkommen ist überdurchschnittlich hoch, das Steueraufkommen ebenfalls, die Arbeits­losenrate liegt bei rund drei Prozent. Die starke Wirtschaft schafft beste Voraussetzungen auch in anderen Bereichen, wie bei der ­Gesundheitsversorgung, in der Bildung und im Verkehr. Dennoch hat die AfD bei den Bundestagswahlen dort hohe Werte erzielt. »Ich habe keine Erklärung dafür«, zitiert die Studie einen Befragten aus der Region. »Unzufriedenheit ist kommunalpolitisch nicht dingfest zu ­machen. Probleme mit Migranten in Deutschland? Nicht hier im Ort.«