Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector

Aus dem Grab sprechen

Die 1977 in Brasilien verstorbene Schriftstellerin Clarice Lispector galt ihren Zeitgenossen als Mysterium. Ihre eigenwillige, experimentelle Prosa ist nichts für eilige Leser.

Es gibt kein Rätsel, das eine Grundlage für Mythen wäre, tut mir leid«, hielt Clarice Lispector 1970 in ihrer Kolumne im Jornal do Brasil lapidar fest, nachdem sich drei Jahrzehnte lang Legenden um die Autorin gerankt hatten. Ihre nicht zu kategorisierende Prosa, ihr zeitweiliges Leben als Diplomatengattin, ihre mondän-unergründliche Schönheit und einige notorische Gepflogenheiten hatten ihr eine enigmatische Ausstrahlung verliehen, die das Feuilleton und die Gesellschaft Brasiliens nicht weniger in den Bann zog, als es ihre Romane ohnehin schon taten. Über Lispectors gebürtige Herkunft wurde ebenso viel spekuliert wie über die Genese der literarischen Kompetenzen der studierten Juristin. Ihre Figuren strahlten derweil auf sie zurück. In dem 1969 erschienenen Roman »Eine Lehre oder das Buch der Lust« heißt es über die Protagonistin Lóri: »In ihren geschminkten Augen stand auch die melancholische Aufforderung: Entziffere mich, Liebster, oder ich muss Dich verschlingen.« Und in »Die Passion nach G. H.«, der fünf Jahre zuvor erschienene, wohl bekannteste Roman der Autorin, bekundet ebenjene G. H., auf ihrem eigenen Foto »DAS MYSTERIUM« erblickt zu haben – Zeilen, die auf die mediale Wahrnehmung ihrer Schöpferin mehr als nur anspielen.

»Rilke schreibt 24 Gedichte über die Rose«, bemerkte Hélène Cixous: »Aber Clarice Lispector lässt uns das stille Atmen einer Rose erleben.«

Diese sah sich angesichts der nicht enden wollenden Fremdidentifika­tion als Rätsel schließlich zu einer Richtigstellung veranlasst: »Ich bin in der Ukraine geboren, der Heimat meiner Eltern. Ich bin in einem Dorf namens Tschetschelnyk geboren, das so klein und unbedeutend ist, dass es nicht einmal auf der Landkarte auftaucht. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, waren meine Eltern dabei auszuwandern (…) Ich kam nach Brasilien, als ich kaum zwei Monate alt war. (…) Ich bin in Recife aufgewachsen, und ich glaube, wer im Nordosten oder Norden Brasiliens lebt, der lebt intensiver und ein wahrhaft brasilianisches Leben. (…) Erst im Heranwachsendenalter zog ich mit meiner Familie nach Rio: Das war die große, kosmopolitische Stadt, die ich jedoch bald als sehr brasilianisch empfand und vor allem auch als sie selbst.«

So lautet also die geraffte Selbstbeschreibung von Clarice Lispector (1920–1977), der berühmtesten brasi­lianischen Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts, der Kolleginnen und Kollegen immer noch Respek bekunden, wobei sie bisweilen selbst ekstatisch entrückt erscheinen. Stellvertretend für viele sei hier nur eine Stimme zitiert: »Als ob Kafka eine Frau wäre. Und Rilke eine brasilianische Jüdin, in der Ukraine geboren. Als ob Rimbaud die Mutter … Warum führe ich all diese Namen an? Um die Herkunft zu skizzieren. Von dort schreibt Clarice Lispector. Dort, wo die anspruchsvollsten Werke atmen, schreitet sie voran.« Dies schrieb Hélène Cixous, die die Autorin aus Rio de Janeiro erst posthum, 1978, entdeckte, in deren Werk aber umgehend das Paradebeispiel für die écriture féminine ausmacht: ein aus dem Unbewussten fließender Strom an Lust und Wünschen, der nicht vereinnahmt.