Imprint - Du bist mir gleich

Du bist mir gleich

Samira Weiss kennt sich mit Geometrie aus und arbeitet als Wissenschaftsredakteurin bei einer Zeitung. Als sie mit dem Nachruf auf eine geniale Mathematikerin beauftragt wird, gerät sie mit verschiedenen Leuten aneinander: einer schwitzenden Verlegerin, einem verzweifelnden Liebenden und mit ihrem überforderten Chef Peter Trötsch. Auszug aus dem Roman »Du bist mir gleich«.

I. Der arme Chef

Die Wahrheit über Peter Trötsch kann niemandem gefallen, am wenigsten ihm selbst. Peter Trötsch tut sich leid. Er hasst Spiegel und Selbstreflexion. Allmählich verliert er die blonden dünnen Haare vorn über der Stirn. Allmählich verliert er die Geduld. Allmählich verliert ihn sein Job. Er ist körperlich schmal, fast dürr, dabei schlaff wütend, das gibt’s. Sein Gesicht schmilzt. Sein Ziegenbärtchen, früher Gold in Kupfer, vergilbt allmählich. Es ähnelt immer mehr schlechtem Stroh. Er hat siebenundfünfzig Lebensjahre hinter sich. Seine Aussichten aufs Künftige trüben sich jeden Tag weiter ein. Sie werden saure Milch. Er ist ein Feigling, krank, überfordert, Tyrann, Mensch ohne Geist, Dreckschwein, Opfer, sagen einige, sagen andere, weiß kein Mensch. Er meint es nicht so. Er hat einen sehr guten Musikgeschmack.

Peter Trötsch ist der unwichtigste Mensch in dieser Geschichte. Aber sie muss mit ihm anfangen, weil sie nicht mit ihm aufhören darf. Seine Gesichtshaut sieht oft aus, als hätte er sie nach dem Colabad mit Löschpapier abgetrocknet. Manchmal bläst er Wutanfälle aus sich heraus, »vor versammelter Mannschaft«, wie er sagt. Dann mault er etwa, eindeutig zu laut: »Suleyman, das war kein Artikel, das war ein Haufen Müll.«

Oder er leiert: »Herr Meiner, Herr Meiner, Herr Meiner. Sie können doch nicht ohne die Bilder in die Konferenz kommen. Ach, Herr Meiner.«

Oder er schimpft: »Samira, das war unmöglich, wie du dich gestern angestellt hast. Wir sind hier nicht bei der Kunst oder bei der Träumerei, wir sind hier im Tagesgeschäft. Da wird prompt geliefert und nicht rumgezickt.«

Allen ist es peinlich, wenn er sich so aufspielt, denn das Gehabe deckt keinerlei natürliche Autorität, etwa die der überlegenen Leistung. Diese Anfälle sind eigentlich Hilferufe, aber sie bringen nichts. Denn seine Vorgesetzten, die diese Hilferufe ­allenfalls hören könnten, interessiert nie, was Peter Trötsch macht, denkt oder sagt, und seine Untergebenen, die seine Hilferufe hören müssen, interessiert nie, wie es ihm dabei geht. Diesen Zustand nennt man hier Chef.
 

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