Homophobie in Russland

Leugnen und verschweigen

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Von solchen Kreisen möchte sich die Geistlichkeit distanzieren, auch weil die Kirche versucht, mit ihrer Propaganda, Enthaltsamkeit sei der beste Schutz, die Ängste vor HIV für sich zu nutzen. Einer der medienwirksamen »Aids-Dissidenten« und Verschwörungstheoretiker ist der skandalumwobene Priester Dmitrij Smirnow, der wiederholt die These vertrat, HIV und Aids seien eine Erfindung der westlichen Pharmaindustrie und der »Homolobby«. Paradoxerweise kommen die Leugner und die sich oppositionell gebenden Verbreiter unüberprüfter Informationen über Masseninfizierungen zu denselben verschwörungsideologischen und homophoben Schlüssen.

Was all diese Probleme mit der repressiven Gesetzgebung der vergangenen Jahre zu tun haben, wird erst allmählich klar. Das Gesetz gegen »homosexuelle Propaganda« aus dem Jahr 2013 traf besonders die Präventions- und Aufklärungsarbeit unter Jugendlichen. Gegen die sich rapide verbreitende Wissenschaftsleugnung existieren dagegen kaum rechtliche Barrieren. Manchmal werden Hilfsorganisationen auch auf Grundlage des Gesetzes über »ausländische Agenten« von 2012 belangt. Wer finanzielle Hilfe aus dem Ausland bezieht, muss sich als »ausländischer Agent« registrieren lassen und alle Veröffentlichungen entsprechend markieren.

In der Region Saratow begann die Staatsanwaltschaft 2016 Ermittlungen gegen die seit 1998 bestehende Aids-Hilfsorganisation Sozium. Der als Experte bestellte Geschichtsprofessor der örtlichen juristischen Akademie, Iwan Konowalow, bescheinigte dem Verein, am »hybriden Krieg gegen Russland« teilzunehmen und durch seine Tätigkeit die »Traditionen und nationalen Werte« zu zerstören. Die Verteilung von Kondomen und Kanülen, die mit Geldern der Europäischen Kommission und des M.A.C. Aids Fund erworben worden waren, wertete Konowalow als »Aktivität, die der Tätigkeit und den Aufgaben unseres Staats prinzipiell entgegenläuft«. Die regionale Staatsanwaltschaft sah in den Umfragen von Sozium den Versuch einer politischen Einflussnahme, denn die Personen, die Umfragen mit Hilfe ausländischer Finanzierung erhoben hatten, waren zugleich Mitglieder verschiedener Kommissionen bei Organen der örtlichen Selbstverwaltung und hätten daher die erhobenen Daten für die politische Entscheidungsfindung nutzen können. Die landesweite Solidaritätskampagne und Verweise auf die wachsende HIV-Problematik in der Region nutzten nichts, Sozium verlor alle Gerichtsprozesse und löste sich offiziell auf.

Die Folge solcher Urteile ist, dass bei den Debatten über die Epidemiegefahr dem Schweigen von offizieller Seite häufig mit Gerüchten statt mit Fakten begegnet wird, was mehr zu Stigmatisierung als zur Prävention beiträgt.