Russlands Klimapolitik

Wer braucht schon Permafrost

Russland hat katastrophale Folgen des Klimawandels zu erwarten. Sonderlich ambitioniert ist die Klimaschutzpolitik der Regierung dennoch nicht. Dritter Teil einer Serie über Klimapolitik in verschiedenen Ländern.

In den neunziger Jahren, als demokratische Veränderungen möglich schienen, entstanden in Russland allerlei neue Parteien und Bewegungen. Ob »Demokratisches Russland«, »Unser Haus Russland« oder »Demokratische Wahl Russlands« – fast immer tauchte der Landesname auf. In der Flut zahlreicher neuer politischer Organisationen ging eine beinahe unter: »Subtropisches Russland«. Zu deren Forderungen zählte die Anhebung des Alkoholgehalts bei Wodka von 40 auf 50 Prozent und eine dauerhafte Erwärmung der Außentemperatur auf angenehme 20 Grad. Die Mitgliedschaft in dieser Bewegung war nicht jedem gestattet, zu den Aufnahmeritualen gehörte ein Bad in einem Brunnen in der Moskauer Innenstadt; nicht Anfang August, wenn die Angehörigen russischer Luftlandetruppen an ihrem Ehrentag in Wasseranlagen planschen dürfen, die eigentlich als Zierde gedacht sind, sondern Ende September, wenn sich die meisten Menschen in Erwartung erster Schneefälle lieber warm anziehen, als einen Sprung ins kalte Wasser zu wagen.

Bei der Emission von Treibhaus­gasen nimmt Russland weltweit den vierten Platz ein.

Aus der Demokratie ist in Russland bekanntlich nichts geworden, aber die Erderwärmung hätte nicht einmal vor dem Eisernen Vorhang Halt gemacht. So hat sich das Konzept des »Subtropischen Russlands«, dessen Gründer vor einigen Jahren das Zeitliche segnete, unerwartet als zukunftsträchtig erwiesen. Am 17. Oktober vermeldete Moskau mit 18 Grad Celsius einen Temperaturrekord für dieses Datum seit Beginn der regulären Messungen. Den Forschungsergebnissen des Crowther Lab der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich zum Klimawandel zufolge ist für Moskau bis zum Jahr 2050 ein Anstieg der Durchschnittstemperatur um drei Grad zu erwarten. Die russische Hauptstadt und andere Regionen des Landes dürfen demnach zwar mit einem milderen Klima rechnen, Verschiebungen sollen allerdings nur innerhalb bislang bestehender Klimazonen stattfinden.

Beim Blick auf die Wetterkarte entsteht gelegentlich ein anderer Eindruck. So warteten beispielsweise im Mai pa­zifiknahe Städte im russischen Fernen Osten mit Hitzewerten auf, die sie in die Top Ten der wärmsten Orte Russlands katapultierten. Schon der vorangegangene Winter war dort übermäßig warm verlaufen und hatte kaum Schnee gebracht.

 

Klimaforscher der Akademie der Wissenschaften im sibirischen Krasnojarsk untersuchten gemeinsam mit US-amerikanischen Kollegen die Folgen des Temperaturanstiegs für den riesigen asiatischen Teil Russlands, wo etwas mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung lebt. Sie verweisen auf starke regionale Unterschiede, beispielsweise steigt stellenweise die Zahl der Tage mit anomal niedrigen Lufttemperaturen im Herbst und Winter. An einigen Orten Westsibiriens wurden im Sommer an etlichen Tagen Temperaturen unter den gängigen Werten gemessen. Der Gesamttrend geht jedoch zur Erwärmung. Bis zum Jahr 2080 könnte sich durch stetiges Auftauen der Anteil an Permafrostböden von bislang 65 auf 40 Prozent verringern. Dieser Schätzung liegt ein jahreszeitlicher Temperaturanstieg in Sibirien zugrunde, wie er bei einem weiteren Anstieg der Treibhausgasemissionen zu erwarten wäre. Ansonsten wäre der Schmelzeffekt geringer.

Die Szenarien unterscheiden sich im Detail, doch prognostizieren die Forscher, dass Gebiete, die sich bislang wegen ihrer extremen Klimabedingungen nur bedingt für dauerhafte Besiedlung eignen, in 60 Jahren deutlich an Attraktivität gewinnen und entgegen der derzeitigen Abwanderungstendenzen sogar wieder Menschen aus dem europäischen Teil Russlands anziehen könnten. Allerdings dürfte sich die ohnehin häufig marode Infrastruktur bis dahin kaum verbessert haben. Auf ewig gefrorenem Grund errichtete Häuser und Straßen würden schlichtweg ihr Fundament verlieren. Auch sei nicht klar, ob sich die dann eisfreien Böden für die Landwirtschaft eignen würden. Es hänge jedoch vieles von den planerischen Zielen der Regierung ab. Diese bemüht sich bislang vorwiegend um den Ausbau einiger großer Ballungszentren, nicht zuletzt um Mittel für den Erhalt der Infrastruktur in weniger dicht besiedelten Gebieten einzusparen.

Der Klimawandel scheint für weite Gebiete Russlands einige Verbesserungen zu versprechen, doch der Temperaturanstieg geht hier rasanter vonstatten als andernorts. Nicht allein von Umweltorganisationen, sondern auch aus dem Staatsapparat sind immer häufiger Warnungen vor unumkehrbaren Folgen des Klimawandels zu vernehmen. Einen Vorgeschmack auf kommende Katastrophen bot der vergangene Sommer. Waldbrände dehnten sich in Sibirien auf riesigen Flächen aus, während im Irkutsker Gebiet ganze Ortschaften im Wasser versanken, weil Flüsse nach heftigen Regenfällen über die Ufer traten. Durch die Nähe zur Arktis entsteht eine zusätzliche Gefahr. Bei den Bränden entstehender Ruß zieht nach Norden und schwärzt das Eis, das dadurch Sonneneinstrahlung weniger reflektiert und stattdessen Wärme aufnimmt. Die Folge: Das Eis der Arktis schmilzt schneller.

 

Bereits im vergangenen Jahr zeichnete das russische Umweltministerium in einem Bericht fast schon ein apokalyptisches Zukunftsszenario: Extreme Dürreperioden und Überschwemmungen hätten irreversible Folgen für die Flora und Fauna. Die Bevölkerung werde vermehrt mit Epidemien konfrontiert, mit Ernteausfällen sei zu rechnen, Lagerstätten für radioaktive Abfälle könnten zerstört werden. Die gesamte Infrastruktur halte langfristig den extremen Wetterverhältnissen nicht stand. Eisenbahnschienen würden bei zu hohen Temperaturen deformiert, was zu Unfällen führe. Selbst mit der Schädigung und Notabschaltung von Kraftwerken müsse gerechnet werden. Die Autoren des Berichts sehen insbesondere den europäischen Teil Russlands gefährdet, aber auch Bergregionen und seismisch aktive Gebiete wie die Insel Sachalin.

Bei der Emission von Treibhausgasen nimmt Russland weltweit den vierten Platz ein. Neben der Atomkraft dienen Öl, Gas und Kohle zur Energiegewinnung und setzen bei der Verbrennung massenweise Schadstoffe frei. Sonnen- und Windenergie werden kaum genutzt, wenngleich selbst der staatliche Nuklearkonzern Rosatom ­inzwischen Pilotprojekte in Gang gebracht hat. Der Waldbestand ist wegen Bränden und Rodungen rückläufig, durch das Auftauen der Permafrostböden wird klimaschädliches Methan freigesetzt. Immerhin brachte die russische Regierung im September endlich die Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens auf den Weg. Russland verspricht, die CO2-Emissionen bis 2030 um 25 bis 30 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Das ist ein recht lächerliches Ziel, denn die postsowjetische Deindustrialisierung sorgte dafür, dass die Emissionen 2017 bereits um 32 Prozent unter dem Niveau von 1990 lagen.

Ein Klimaschutzgesetz soll es dennoch geben. Schon seit zwei Jahren ist das Wirtschaftsministerium mit dessen Ausarbeitung beschäftigt und legte jüngst einen Entwurf vor. Aber mit ­einer schnellen Verabschiedung ist nicht zu rechnen. Industrielle Großbetriebe und Energiefirmen sollen dazu verpflichtet werden, schädliche Emissionen zu erfassen und Maßnahmen zu deren Eindämmung zu ergreifen. Bei der Überschreitung festgelegter Normen drohen Geldstrafen. Doch die Lobby der Großunternehmen übte an dem Vorhaben scharfe Kritik.

Da hilft nur noch Greta Thunberg, dachte sich wohl der Liberaldemokrat Wassilij Wlassow. Der mit 24 Jahren jüngste Duma-Abgeordnete ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Naturressourcen und lud die schwedische Klimaschützerin nach Moskau ein. Seine Kollegen halten von der Idee wenig. Zumindest in dieser Frage hat die Duma ausnahmsweise einen Großteil der Meinungsmacher von der außerparlamentarischen liberalen Opposition auf ihrer Seite.