Christian Maurels ­Thesen zu utopischer Sexualität

Auf der Suche nach dem Dritten

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Sowohl die Ehe als auch die rastlose Suche nach Sex sind für ihn begründet in einer »Angst vor Einsamkeit«. Eine Angst, die sich auch heute po­litisieren lassen könnte. Insbesondere, weil sich diese von Maurel für Schwule geschilderte falsche Alternative beispielsweise durch das Aufkommen von Dating-Apps immer mehr auch für Heterosexuelle ergibt. Spontane Kontaktanbahnung, ebenso schnelle Kontaktabbrüche und die Vermeidung von zu viel Nähe, Verantwortung und Verbindlichkeit einerseits und die Flucht in die Paarbeziehung andererseits, sind all­gegenwärtig.
Misstrauisch gegenüber dem Ausmalen konkreter Utopien kreist sein Denken um die stetige Suche nach einem Dritten, jenseits der Dualismen Homo- und Heterosexualität, schwul und lesbisch, Ehe und Bindungslosigkeit, trotz Unsicherheit, ob eine Transzendierung dieser ­Dualismen überhaupt funktionieren könne. Statt der an Identität gebundenen Selbstbeschränkung fordert er ein »Expandieren, Ausschweifen, Wuchern des Begehrens« und die Schaffung von »multiplen, simultanen Begehrensanschlüssen«. Die Auflösung der Normalität wäre durch die Universalisierung »intersexueller Zustände« zu erreichen, um so die »Tyrannei der Virilität«, unter der Frauen wie Männer litten, abzuschaffen. So träumt Maurel davon, dass man sich für einen Körper entscheiden kann, ohne jedoch das Begehren nach einem anderen aufzugeben.

Seine politischen Hoffnungen setzt er auf ein umfassendes Begehren, in dessen Zentrum er den Analsex sieht. Damit rekurriert er explizit auf das Sexuelle, in der Hoffnung, eine Sexualität, die auf den Penis zugeschnitten ist, aufzusprengen. Den Analverkehr begreift er als sexuelle Praxis, bei der man eigene Macht aufgeben kann, was zu einer anderen Form von Lust und zu emphatischen Verbindungen führt. Stärke und Schwäche sowie Aktivität und Passivität gehen durcheinander, lösen sich vom Geschlecht und dessen Zuschreibungen und unterlaufen so Geschlechterkonzeptionen und die heterosexuelle Ordnung. Ob diese abstrakt-utopische Situation jemals erreicht werden kann, bleibt für Maurel allerdings mehr als fraglich, denn das Kollabieren der sexuellen Institutionen wäre gleichzeitig das »Ende der sexuellen Revolution«. Kritisch nachzufragen wäre auch, inwiefern Sexualität als politische und bewusste Handlung überhaupt vollführt werden kann und inwieweit Maurel Vorlieben und Lebensweisen der Individuen in Bezug auf seinen Vorschlag ignoriert und unterschätzt. Auch die konflikthaften Momente der Sexualität werden zu wenig berücksichtigt, wie beispielsweise ihre aggressiven Anteile.

Maurels Text wurde zur Zeit eines intakten Wohlfahrtsstaats verfasst, in der die Diskriminierung von Homosexuellen noch stärker war als heute. Diese ökonomisch-gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen haben sich mittlerweile geändert. Da der Staat sich zusehends aus der sozialen Absicherung zurückzieht, gewährt die Paarbeziehung auch ökonomischen Rückhalt. Zu fragen wäre folglich, ob die Art von utopischem Experiment, die Maurel vorschlägt, nicht auch finanzielle und zeitliche Ressourcen benötigt, und deshalb für viele schwerlich zu rea­lisieren ist.​

Trotz seiner Beschränkungen erinnert der Text an die Kraft des Begehrens, dessen gesellschaftliche Prägung sowie die Möglichkeit, dass die eigene Subjektivität, zumindest für einen kurzen Moment, unabhängig von Gesellschaft sein kann. »Für den Arsch« ist auch das Dokument eines sexuellen Utopismus, welcher wenige Jahre später im Angesicht von AIDS und der Trauer um die Toten zunächst wieder verschwinden sollte. Ob die Sexualität heute noch dieses Maß an Sprengkraft besitzt, immer noch als große Metapher von Rausch, Glück und utopischem Fortschritt gelten kann, inwiefern sie Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen sein kann und inwieweit beispielsweise ihre permanente öffentliche Inszenierung zu ihrer Banalisierung beigetragen hat, wäre zu diskutieren. Trotz aller Einschränkungen ist es anregend, dass Maurel der Sexualität eine gesellschaftsverändernde Kraft zuspricht. Eine Kraft, die nicht nur auf die Etablierung neuer partikularer Kategorien zielt und statt nach Trennungen vielmehr nach einem gemeinsamen Verbindenden sucht – wie wirklichkeitsfern dies auch sein mag.

Christian Maurel: Für den Arsch. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. August-Verlag, Berlin 2019, 144 Seiten, 14 Euro.