Christian Maurels ­Thesen zu utopischer Sexualität

Auf der Suche nach dem Dritten

Mit Christian Maurels erstmals 1973 veröffentlichten »Für den Arsch« erscheint ein nach wie vor relevanter und wortgewandter Text aus der Hochzeit des französischen Schwulenaktivismus wieder.

Wohl selten hatte ein anonym veröffentlichter Essay eine solche Wirkung. Als er erstmals 1973 in der von Félix Guattari gegründeten französischen Zeitschrift Recherches neben anderen in der Sammlung »Trois Milliards de Pervers: Grande Encyclopédie des Homosexualités« erschien, hagelte es gleich eine Geldstrafe wegen Sittenwidrigkeit, die Ausgabe wurde dann nach einem Gerichts­urteil eingestampft. Die Rede ist von »Für den Arsch«, ein Text, der lange dem schwulen Theoretiker Guy Hocquenghem zugeschrieben wurde, tatsächlich aber von Christian Maurel verfasst wurde. Der Autor entstammt dem Umfeld der Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR), einer Pariser Homosexuellenbewegung. Sein Text ist einerseits der Entwurf eines utopischen Programms des Begehrens und zugleich eine harsche Kritik an falschen Poli­tikansätzen sowie an der (schwulen-)politischen Linken und der dort vorherrschenden Verhaltensweisen. Diese sei gerade kein Umfeld für angstfreie Experimente und emphatische Verbindungen, sondern vielmehr geprägt von Feindseligkeit und der Sanktionierung von Abweichungen.

Für Maurel verbleibt das ausschließliche Bemühen um die Anerkennung von Homosexualität, wie sie von vielen Schwulen der Siebziger (für Maurel »Nationalisten der Homosexualität«) gefordert wurde, im Reformismus. Er formulierte eine frühe Kritik an der identitären Zersplitterung der Bewegung, die daraus resultiere, dass sich jede Gruppe nur an die je eigene Spezifik klammere. Damit nimmt der Essay Tendenzen gegenwärtiger identitätspolitischer Debatten vorweg, beispielsweise jene über die politische Bedeutung von persönlicher Betroffenheit. Gleiches gilt für die Frage nach Bündnissen und einer politischen Praxis, die sich durch identitäre Atomisierung schwieriger kollektiv or­ganisieren lässt. Maurels Erkenntnis der Gefahren dieses identitären ­Politikverständnisses besitzt ebenso weiterhin Aktualität, beschreibt er doch die Unversöhnlichkeit in der gegenwärtigen Debatte, ohne dass er diese hätte kennen können: »Manche sehen in dieser Atomisierung einen notwendigen Schritt, denn der Rand soll die Normalität auf tausend verschiedene Weisen umzingeln und bearbeiten. Der Rand muss aber auch aufpassen, dass er sich nicht selbst bekämpft. Eine bessere Stärkung könnte die Normalität sich nämlich nicht vorstellen.« Eine schlichte affirmative Vervielfachung von Identitäten ebenso wie deren schlichte Negation löse die Zwänge zur Identitätsbildung nicht einfach auf. Die Subjekte sind heute mehr denn je mit verworrenen Anforderungen konfrontiert: zum einem angehalten zu geschlechtlicher und sexueller Eindeutigkeit und zugleich zu ­einer Flexibilisierung von Geschlecht und Sexualität.

Anders als andere Autoren dieser Zeit steht Maurel der Idee, flüchtiger Cruisingsex berge ein emanzipatorisches Potential, kritisch gegenüber. Ihm zufolge trügt die Vorstellung, dass unpersönliche Sexualität Besitzansprüche sowie die bürgerliche Individualität transzendieren könne und so neue Formen des zwischenmenschlichen Kontaktes ermögliche. Die permanente Suche nach dem nächsten Objekt folge eher einer Logik des Konsums, die nicht ausschließlich Befreiung, sondern auch Selbstbeschränkung beinhalte. Obgleich sie eine subversive Funktion gegen die Ehe und einem bürgerlichen Treuebegriff besitze, sei sie oftmals zugleich mit der zwanghaften Abwehr von langanhaltenden und tiefgreifenden Verbindungen und Nähe verknüpft. Man suche sich möglichst fremde Sexualpartner, die möglichst unterschiedlich von einem selbst seien, um so eine größtmögliche Trennung zwischen Körperlichkeit und Geist, Anfassen und Reden zu erreichen. Maurel zeigt hier zugleich bereits früh, inwiefern Ethnizität und Klassenzugehörigkeit Einfluss auf die Formierung des Begehrens und der Geschlechtlichkeit nehmen. Anonyme Sexualität wird bei ihm auch zur Kehrseite ­einer Partnerschaftsideologie, die mit falscher Sicherheit lockt. Trotz jahrelanger fester Beziehung sieht er auch darin keinen Ausweg aus diesen problematischen Verhältnissen, denn »es hilft nichts, sich gegen die Vereinzelung aller zu zweit zu vereinzeln«.

 

Sowohl die Ehe als auch die rastlose Suche nach Sex sind für ihn begründet in einer »Angst vor Einsamkeit«. Eine Angst, die sich auch heute po­litisieren lassen könnte. Insbesondere, weil sich diese von Maurel für Schwule geschilderte falsche Alternative beispielsweise durch das Aufkommen von Dating-Apps immer mehr auch für Heterosexuelle ergibt. Spontane Kontaktanbahnung, ebenso schnelle Kontaktabbrüche und die Vermeidung von zu viel Nähe, Verantwortung und Verbindlichkeit einerseits und die Flucht in die Paarbeziehung andererseits, sind all­gegenwärtig.
Misstrauisch gegenüber dem Ausmalen konkreter Utopien kreist sein Denken um die stetige Suche nach einem Dritten, jenseits der Dualismen Homo- und Heterosexualität, schwul und lesbisch, Ehe und Bindungslosigkeit, trotz Unsicherheit, ob eine Transzendierung dieser ­Dualismen überhaupt funktionieren könne. Statt der an Identität gebundenen Selbstbeschränkung fordert er ein »Expandieren, Ausschweifen, Wuchern des Begehrens« und die Schaffung von »multiplen, simultanen Begehrensanschlüssen«. Die Auflösung der Normalität wäre durch die Universalisierung »intersexueller Zustände« zu erreichen, um so die »Tyrannei der Virilität«, unter der Frauen wie Männer litten, abzuschaffen. So träumt Maurel davon, dass man sich für einen Körper entscheiden kann, ohne jedoch das Begehren nach einem anderen aufzugeben.

Seine politischen Hoffnungen setzt er auf ein umfassendes Begehren, in dessen Zentrum er den Analsex sieht. Damit rekurriert er explizit auf das Sexuelle, in der Hoffnung, eine Sexualität, die auf den Penis zugeschnitten ist, aufzusprengen. Den Analverkehr begreift er als sexuelle Praxis, bei der man eigene Macht aufgeben kann, was zu einer anderen Form von Lust und zu emphatischen Verbindungen führt. Stärke und Schwäche sowie Aktivität und Passivität gehen durcheinander, lösen sich vom Geschlecht und dessen Zuschreibungen und unterlaufen so Geschlechterkonzeptionen und die heterosexuelle Ordnung. Ob diese abstrakt-utopische Situation jemals erreicht werden kann, bleibt für Maurel allerdings mehr als fraglich, denn das Kollabieren der sexuellen Institutionen wäre gleichzeitig das »Ende der sexuellen Revolution«. Kritisch nachzufragen wäre auch, inwiefern Sexualität als politische und bewusste Handlung überhaupt vollführt werden kann und inwieweit Maurel Vorlieben und Lebensweisen der Individuen in Bezug auf seinen Vorschlag ignoriert und unterschätzt. Auch die konflikthaften Momente der Sexualität werden zu wenig berücksichtigt, wie beispielsweise ihre aggressiven Anteile.

Maurels Text wurde zur Zeit eines intakten Wohlfahrtsstaats verfasst, in der die Diskriminierung von Homosexuellen noch stärker war als heute. Diese ökonomisch-gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen haben sich mittlerweile geändert. Da der Staat sich zusehends aus der sozialen Absicherung zurückzieht, gewährt die Paarbeziehung auch ökonomischen Rückhalt. Zu fragen wäre folglich, ob die Art von utopischem Experiment, die Maurel vorschlägt, nicht auch finanzielle und zeitliche Ressourcen benötigt, und deshalb für viele schwerlich zu rea­lisieren ist.​

Trotz seiner Beschränkungen erinnert der Text an die Kraft des Begehrens, dessen gesellschaftliche Prägung sowie die Möglichkeit, dass die eigene Subjektivität, zumindest für einen kurzen Moment, unabhängig von Gesellschaft sein kann. »Für den Arsch« ist auch das Dokument eines sexuellen Utopismus, welcher wenige Jahre später im Angesicht von AIDS und der Trauer um die Toten zunächst wieder verschwinden sollte. Ob die Sexualität heute noch dieses Maß an Sprengkraft besitzt, immer noch als große Metapher von Rausch, Glück und utopischem Fortschritt gelten kann, inwiefern sie Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen sein kann und inwieweit beispielsweise ihre permanente öffentliche Inszenierung zu ihrer Banalisierung beigetragen hat, wäre zu diskutieren. Trotz aller Einschränkungen ist es anregend, dass Maurel der Sexualität eine gesellschaftsverändernde Kraft zuspricht. Eine Kraft, die nicht nur auf die Etablierung neuer partikularer Kategorien zielt und statt nach Trennungen vielmehr nach einem gemeinsamen Verbindenden sucht – wie wirklichkeitsfern dies auch sein mag.

Christian Maurel: Für den Arsch. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. August-Verlag, Berlin 2019, 144 Seiten, 14 Euro.