Neue Erkenntnisse im Fall Oury Jalloh

Knochenbrüche und vernichtete Akten

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Spätestens seit zwei Jahren steht der Verdacht im Raum, dass Polizisten den 36jährigen Jalloh getötet haben könnten, um frühere Verbrechen zu vertuschen. Bereits 1997 und 2002 waren zwei Männer gestorben, nachdem sie in das Revier gebracht worden waren. Die genauen Todesumstände blieben ungeklärt. Folker Bittmann, bis 2018 leitender Oberstaatsanwalt in Dessau, schrieb 2017 in einem Aktenvermerk, dass Beamte des Polizeireviers neue Untersuchungen in den beiden früheren Fällen gefürchtet haben könnten, falls erneut ein Vorfall mit einer schwerverletzten oder in Gewahrsam an schweren Verletzungen gestorbenen Person bekannt würde. Bittmann formulierte deshalb den Anfangsverdacht eines Mordes an Jalloh. Die Staatsanwaltschaft Dessau war ­zuvor jahrelang davon ausgegangen, dass sich Jalloh selbst angezündet hat. Mehrere Gutachter wiesen jedoch ­darauf hin, dass er dazu kaum in der Lage gewesen sein konnte und dass ­offenbar ein Brandbeschleuniger zum Einsatz gekommen war.

Mamadou Saliou Diallo (l., Bruder von Oury Jalloh) bei einer Pressekonferenz Ende Oktober in Berlin.

Bild:
dpa / Jörg Carstensen

In der vergangenen Woche wurde ein neues forensisches Gutachten bekannt, das die »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« bei dem Frankfurter Radiologieprofessor Boris Bodelle in Auftrag gegeben hatte. Es stützt die These, dass Polizisten den Gefangenen getötet haben, um etwas zu vertuschen. In dem Gutachten, aus dem die Initiative auf ihrer Website zitiert, heißt es: »Nach Begutachtung der Bilddateien der Computertomographie vom 31.3.2005 des Leichnams des Oury Jalloh sind Knochenbrüche des Nasenbeins, der knöchernen Nasenscheidewand sowie ein Bruchsystem in das vordere Schädeldach sowie ein Bruch der elften Rippe rechtsseitig nachweisbar.« Es sei davon auszugehen, »dass diese Veränderungen vor dem Todeseintritt entstanden sind«. Der Polizeiarzt hatte keine Verletzungen festgestellt, als Jalloh einige Stunden vor seinem Tod auf das Revier ­gebracht wurde.

Wegen der neuen Entwicklungen wurden erneut Forderungen nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss laut, beispielsweise erhoben von dem Bochumer Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein im Spiegel. Die neuen Erkenntnisse seien »eine kleine Sensation«, so Singelnstein. Bereits im Februar hatte die Fraktion der Linkspartei im sachsen-anhaltinischen Landtag erfolglos einen solchen Ausschuss beantragt. Die AfD stimmte dagegen; die Regierungskoalition aus CDU, SPD und Grünen enthielt sich. Bereits zuvor hatte der Landtag zwei parlamentarische Berater eingesetzt, die aber erst nach der Entscheidung über das Klageerzwingungsverfahren ihre Arbeit aufnehmen sollten. Sie sollen nun Zugang zu den Akten erhalten.

Für die Familie von Oury Jalloh und alle Unterstützer gibt es unterdessen nur noch eine Hoffnung auf gerichtliche Aufklärung: das Bundesverfassungsgericht. Wie das Portal Vice berichtete, hat Mamadou Saliou Diallo, der Bruder des Verstorbenen, dort Beschwerde gegen die Entscheidung des OLG Naumburg eingelegt.