Die Türkei konnte ihre Pläne für Nordsyrien bislang nicht durchsetzen

Der Jihadistenversteher hat die Aufsicht

Die Türkei konnte ihre Pläne für Nordsyrien bislang nicht durchsetzen. Die Lage für die Zivilbevölkerung ist dennoch bereits katastrophal.

»Wir sind doch kein Hotel für ausländische Terroristen«, sagte der türkische Innenminister Süleyman Soylu vergangene Woche und kündigte die baldige Verschickung gefangener ausländischer Jihadisten in ihre Herkunftsländer an. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan tönte, die Bigotterie des Westens komme jetzt zum Vorschein. Der Westen spreche von »islamistischen Militanten«, dabei seien es vor allem westliche Terroristen, die in der Welt Angst und Schrecken verbreiteten.

Im Zuge der Militäroperation in Syrien vermeldet die Türkei erstaunliche Fahndungserfolge. Etwa 300 ausländische Jihadisten wurden in einer Woche festgesetzt. Aber nicht nur in Syrien: In der Türkei läuft eine landesweite Rasterfahndung. Hausdurchsuchungen und Straßenkontrollen demonstrieren den Eifer der türkischen Ermittler. Die Türkei hatte nach der Tötung des Anführers des »Islamischen Staats« (IS), Abu Bakr al-Baghdadi, unweit der türkischen Grenze in einem von der Türkei und ihren Verbündeten kontrollierten syrischen Gebiet behauptet, nichts von dessen Aufenthalt gewusst zu haben. Doch wenig später wurden ­al-Baghdadis Schwester Rasmiya Awad, deren Ehemann und eine Schwiegertochter von türkischen Kräften festgenommen. Eine Ehefrau al-Baghdadis befinde sich bereits seit eineinhalb Jahren in türkischem Gewahrsam, ließ Erdoğan verlauten.

Der New York Times zufolge soll al-Baghdadi mindestens vier Frauen gehabt haben. Drei von ihnen starben nach Angaben von US-Behörden Ende Oktober beim selben Einsatz wie al-Baghdadi. Durch die Festnahmen hat die Türkei einen direkten Zugang zum engsten Kreis des toten IS-Anführers. »Die Türkei macht aber nicht so viel Aufhebens darum wie die USA«, sagte Erdoğan bei einer Rede an der Universität Ankara am 6. November. Vielleicht aus gutem Grund: Während sich die Türkei derzeit als führend im Antiterrorkampf präsentiert, verdichten sich die seit Jahren kursierenden Vorwürfe, die Regierung kooperiere nicht nur mit anderen Jihadisten, die gegen den ­syrischen Diktator Bashar al-Assad kämpfen, sondern auch mit dem IS.

Der Wiesbadener Arzt Michael Wilk berichtete vergangene Woche von seinen Erfahrungen in Nordsyrien. Wilk war nach eigenen Angaben mit einem Notfallteam in der Stadt Tell Tamer. Nach dem Einmarsch der Türkei am 9. Oktober hatten dort Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der von der Türkei unterstützten Miliz Syrische Nationalarmee (SNA) auf der einen Seite und den von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) angeführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) auf der anderen begonnen. In der Sendung »SWR Aktuell« sprach der Arzt von »jihadistischen, islamistischen Hilfstruppen«, die die Türkei in Idlib mobilisiere. Darunter seien Per­sonen, die früher bei al-Qaida nahestehenden Einheiten oder dem IS gewesen seien. Nach Recherchen des SWR und NDR geht die deutsche Regierung ebenfalls davon aus.

 

Pläne der US-Regierung, die Türkei zum Aufseher über entflohene Jihadisten zu machen, sind deshalb absurd. Der türkische Einmarsch in Nordsyrien wird in der Türkei von einem Propagandaspektakel und der Einschüchterung der Opposition begleitet. Allein wegen kritischer Stellungnahmen in sozialen Medien werden Menschen täglich festgenommen; im Namen des Leiters der Behörde für Presse und Information, Fahrettin Altun, per Whatsapp »Operationsbriefings« an inlän­dische und ausländische Medien verschickt. Die Militäroperation wird dort als Befreiung der von »kurdischen Terroristen« besetzen syrischen Gebiete dargestellt, ungeachtet der Tatsache, dass die SDF-Truppen sich vor allem aus der lokalen nordsyrischen Bevölkerung rekrutieren und Verbün­dete der USA im Kampf gegen den IS waren.

Die humanitäre Lage verschlech­tert sich in Nordsyrien Tag für Tag, da die Feuerpause immer wieder von den Kriegsparteien gebrochen wird. Etwa 200.000 Menschen wurden bislang zur Flucht gezwungen. Erdoğans »Umsiedlungsprojekt« bleibt bislang jedoch in der Planungsphase stecken. Die Militäroperation sollte die SDF »zermalmen« und die vor allem aus Kurden und Christen bestehende Bevölkerung aus der Region vertreiben. In der Grenzregion wollte die Türkei eine 444 Kilometer lange und 30 bis 40 Kilo­meter breite »Sicherheitszone« schaffen. Dort plante Erdoğan, zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln. Das Vorhaben sollte zugleich der angeschlagenen türkische Wirtschaft mit dem Bau von zehn neuen Städten und 140 Dörfern helfen. Die Kosten von schätzungsweise 25 Milliarden Euro sollte vor allem die »internationale Gemeinschaft« tragen; andernfalls, so drohte der Präsident, werde er Millionen Flüchtlinge nach Europa schicken.

Doch unter dem Druck der USA und vor allem Russlands musste Erdoğan seinen Vormarsch bremsen. Im Schutz der wenn auch brüchigen Waffenruhe zogen sich die SDF ins Landesinnere zurück. Die türkische Armee und ihre Verbündeten sind auf der syrischen Seite der Grenze zurzeit in einem etwa 120 Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Streifen zwischen den Städten Ras al-Ain und Tell Abyad präsent. Diese Zone umfasst mit rund 1 200 Quadratkilometern weniger als ein Zehntel des Gebiets, das ursprünglich besetzt werden sollte. Dort zwei Millionen Flüchtlinge anzusiedeln, ist unmöglich. 

Die Situation ist vor allem für die Zivilbevölkerung katastrophal. Bei dem für den 13. November geplanten Staatsbesuch des türkischen Präsidenten in den USA soll es um Einzelheiten der »Sicherheitszone« gehen. Es bleibt abzuwarten, ob dort angemessen auf die verzwickte Situation reagiert wird.