Let’s Talk About Sex
In einem im Jahr 2016 im Jahrbuch Sexualitäten veröffentlichten Beitrag skizziert die Politologin und Schriftstellerin Ulrike Heider eine Zeitenwende in der Geschichte der sexuellen Emanzipation: »Nur wenige Jahre dauerte der kurze Frühling der sexuellen Revolution. Nicht viel länger waren aufklärerische Gewährsleute wie Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno gefragt. Nicht länger durften die Hippies für den Frieden vögeln und das Leben genießen. Dann kamen schon wieder die Schüler de Sades, um ihrem Herrn der Schmerzlust, des sexuellen Schreckens und der blasphemisch-religiösen Rituale neues Leben einzuhauchen.« Heider konstatiert bereits für einen Zeitpunkt in den frühen siebziger Jahren den Beginn einer Entwicklung, die die sexuelle Revolution der sechziger Jahre revidierte. Und sie versteht Michel Foucault als den theoretischen Stichwortgeber einer in den späten Siebzigern einsetzenden irrationalen Mystifizierung der Sexualität.
Die Positionen im linken Streit über Foucaults Beschäftigung mit Sexualität – und um Judith Butlers Anschluss an Foucault – sind bekannt: Während in Queer und Gender Studies Foucault routiniert als Gewährsmann für die Behauptung zitiert wird, Sexualität sei irgendwie konstruiert, wird er von kritisch-theoretischer Seite oftmals für seinen schillernden Machtbegriff, seine Fixierung auf den Diskurs und nicht zuletzt für seine aberwitzige Begeisterung für die Islamische Revolution im Iran von 1978/1979 kritisiert. Es fällt dabei auf, dass auf beiden Seiten der erste Band seiner Studie »Sexualität und Wahrheit« – »Der Wille zum Wissen«, 1976 erstmals erschienen, auf Deutsch 1983 – breit rezipiert wird, während die beiden Folgebände, »Der Gebrauch der Lüste« und »Die Sorge um sich« – beide 1984 erschienen, auf Deutsch 1986 – kaum eine Rolle spielen. Nun liegt mit einem Abstand von mehr als drei Jahrzehnten der vierte Band des großangelegten sexualitätshistorischen Projekts vor. Dies brachte Foucault kurz vor seinem Tod 1984 in eine zwar weit fortgeschrittene, aber nicht vollendete Form. Über seine Verfügung, dass keine zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Schriften nach seinem Tod publiziert werden dürften, setzte sich eine neue Erbengeneration erst 2018 hinweg, die deutsche Übersetzung erschien in diesem Jahr.
Die Geschichte der Sexualität
In einem instruktiven Vorwort informiert der Herausgeber Frédéric Gros über den Verlauf von Foucaults Projekt. Auf den ersten Wurf »Der Wille zum Wissen«, von vielen als eine stark politisch akzentuierte Programmschrift eingeschätzt, folgte eine Bewegung, die Foucault immer weiter in die Vergangenheit zurückblicken ließ und die sein Projekt von der politischen Polemik kleinteiliger Analyse trieb. Hatte sich der erste Band noch hauptsächlich mit der Zeit vom 18. bis 20. Jahrhundert befasst, behandelten die anschließenden Forschungen, die sich in Vorlesungen und kleineren Arbeiten nachlesen lassen, die Zeit seit dem 16. Jahrhundert, so geht Foucault in einem weiteren Schritt auf die Frühzeit des Christentums vom ersten bis zum fünften Jahrhundert und anschließend noch weiter zurück, nämlich in die klassische bis kaiserzeitliche Periode der griechisch-römischen Antike (5. Jahrhundert v. u. Z. bis 2. Jahrhundert u. Z.). Die Studie über das frühe Christentum wurde vor den beiden Bänden zur vorchristlichen Antike verfasst, aber im Gegensatz zu diesen nicht mehr in eine druckreife Fassung gebracht.
Der Stein des Anstoßes, der zur queertheoretischen Begeisterung und zur kritisch-theoretischen Ablehnung führte, ist »Der Wille zum Wissen«. Darin argumentiert Foucault, das von Teilen der Linken gezeichnete Bild von Sexualität sei unangemessen: Linke Theoretiker der Sexualunterdrückung wie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse sähen Sexualität als eine überhistorische Konstante und ihre Unterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft als ein von der sexuellen Revolution zu bewältigendes drängendes Problem. Tatsächlich verhalte es sich aber ganz anders: Das Sprechen über Sexualität werde in der Moderne keineswegs unterdrückt, sondern permanent herausgefordert, etwa durch die Sexualwissenschaft und die Psychoanalyse. Sexualität sei darüber hinaus ein Wissensgegenstand, der erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts als solcher konstituiert worden sei. Durchdrungen von »Macht« werde Sexualität in der Moderne zum »biopolitischen« Instrument der Disziplinierung von Bevölkerungen, so Foucault.
Es wird deutlich, dass Foucault einen ganz anderen Begriff von Sexualität hat als die psychoanalytisch geprägten Theoretikerinnen und Theoretiker der bundesdeutschen Linken. Während diese von der Unterdrückung der Sexualität in ihren psychischen und praktischen Dimensionen sprachen, fasste jener »Sexualität« als einen Wissensgegenstand, als das Produkt des Redens über sie. Für die psychische Realität der Sexualität, für tatsächliche sexuelle Praxis interessiert sich der Foucault des ersten Bandes von »Sexualität und Wahrheit« nicht, anders als der Foucault, der sich in späteren Interviews über schwule Sexualität und Sadomasochismus äußerte. Heiders Vorwurf, Foucault mystifiziere im Anschluss an de Sade und George Bataille die Sexualität, mag bezüglich einige Äußerungen in Interviews angemessen sein, für »Der Wille zum Wissen« geht er fehl. Ganz im Gegenteil: Foucault verflacht hier Sexualität zu einem rein diskursiven Gegenstand. Damit geht einher, dass er die Zurichtung und Unterdrückung tatsächlicher Sexualität aus seinem Projekt einer Sexualitätsgeschichte eskamotiert. Das wäre diesen Band vorzuwerfen.
Auf die Provokation von »Der Wille zum Wissen« folgten mit den beiden Folgebänden eingehende Studien über den antiken Komplex der aphrodisia, der Dinge, die mit der Göttin Aphrodite zu tun haben. So nennt Foucault an die griechischen Texte anschließend die diskursive Konstellation, die er vom modernen Begriff der Sexualität abgrenzen will. An die Stelle der Polemik gegen die marxistische Linke und die Psychoanalyse tritt ein Interesse am Selbstbezug des Subjekts, wie es in den antiken Texten zutage tritt, ein Interesse, das weniger deutlich (ab-)wertet. Mit dem Rückgriff auf die Antike änderte sich Foucaults Projekt deutlich.
Der nun erschienene vierte Band zeigt Foucault als differenzierten Analytiker eines erstaunlichen Moments in der Geschichte der Sexualität. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung greifen christliche Autoren das in den beiden Vorgängerbänden analysierte System einer Ökonomie der aphrodisia auf. Wie in den antiken Philosophenschulen und bei den paganen Medizinern steht zunächst die Frage im Mittelpunkt des Interesses, zu welcher Zeit man welchen Sex in welchem Maß und zu welchem Zweck haben soll. Doch in drei Bereichen kommt es nach Foucaults Analyse zu einer fundamentalen Neuformierung des Gegenstands: in der Buße, in der Askese und im Eheleben.
Es ist auffällig, wie deutlich sich Foucault in diesem vierten Band jeder expliziten Bezugnahme auf ideologische Systeme, die außerhalb seiner Texte über die Spätantike liegen, sowie auch des Gebrauchs der Begrifflichkeiten seiner eigenen Macht- und biopolitischen Theorie enthält. In seinen Lektüren patristischer Texte zeigt Foucault eindrücklich, wie sich der Fokus des Redens über Sexualität in einer Jahrhunderte andauernden Bewegung von der Ökonomik hin zu einem komplexen Selbstbezug bewegt. Er macht die Buße und die Askese als Techniken der fortwährenden Selbstbeobachtung aus, die im Bereich des allgemeinen Gemeindelebens und des monastischen Lebens zu der Vorstellung einer Subjektivität führen, die bestrebt ist, in der Sexualität ihren sich ständig entziehenden Untergrund aufzusuchen, und das Subjekt in Instanzen aufspaltet und zugleich die Verantwortung für diese Instanzen übernimmt.
Von der Antike zur Moderne
Ohne dass Foucault dies je explizit machen würde, zeigen sich in der von ihm herausgearbeiteten frühchristlichen »Geschichte der Selbsterfahrung« deutliche strukturelle Analogien zu derjenigen Theorie der Sexualität und des Subjekts, gegen die derselbe Autor im ersten Band von »Sexualität und Wahrheit« als eine Agentur der Disziplinierung polemisiert hatte: zur Psychoanalyse. Offenbar, so legen Foucaults Lektüren nahe, gelangten mit der patristischen Beschäftigung mit dem Sex und dem Selbst im Modus der Theologie und der Moral Strukturen der menschlichen Psyche in den Blick, die die Psychoanalyse später im Modus von Therapie und Theorie und mit gänzlich anderem Interesse dem religiösen Nebel entreißen sollte. Besonders deutlich wird dieser Umstand in Formulierungen Foucaults, die auf die Begegnung des Subjekts mit dem Anderen in ihm selbst abheben: Das monastische Subjekt befindet sich in einem »geistigen Kampf«, der »eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, eine Dynamik von Bewegungen« ist, »die von der Seele zum Körper gehen und umgekehrt«; das Andere als die sinnlichen Impulse, die vom Körper ausgehen und in der Psyche repräsentiert werden, und die Freud als den Trieb fassen wird. Doch das Andere tritt auch als der Andere auf, als der Widersacher Satan, dessen »Vorhandensein« man »tief in sich« entdeckt. Die Diskussionen über den sexuellen Selbstbezug des Subjekts kulminieren in Foucaults Darstellung von Augustinus’ philosophischer Neuinterpretation des Sündenfalls, die für eine christliche Ethik der ehelichen Sexualität von zentraler Bedeutung ist. Die Interpretation des biblischen Mythos führt bei Augustinus zu einem Verständnis des Begehrens als einer unwillkürlichen Macht, die – paradoxerweise – das Wollen des Subjekts okkupiert: Das Wollen des Subjekts nimmt die Form des unwillkürlichen Begehrens an.
Im vierten Band von »Sexualität und Wahrheit« wird also implizit der Übergang zwischen der Antike und der Moderne viel deutlicher hervorgehoben als der große Bruch, den der erste Band explizit betonte. Damit kann der vierte Band auch Argumente gegen bestimmte regressive Interpretationen des ersten Bandes an die Hand geben, wie sie nicht zuletzt im deutschen Sprachraum vom am wenigsten komplexen Teil der Queer Studies vertreten werden. Die Abgrenzung der modernen disziplinierten von einer antiken Sexualität hat öfters zu dem Missverständnis geführt, in dieser Vorzeit hätten paradiesische Zustände geherrscht. Das ist eine absurde Annahme. Wer die an Foucault anschließenden Forschungen des Klassischen Philologen David Halperin zur Kenntnis genommen hat, weiß, dass es sich bei der antiken griechischen um eine Kultur handelte, die zwischen freien Männern einerseits und allen anderen – Frauen, Knaben, Sklaven – andererseits unterschied und jenen erlaubte, diese zu penetrieren, diesen aber das Recht verwehrte, sich dem zu entziehen. Eine solche Kultur muss man als rape culture bezeichnen.