Die Geschichte der Sexualität nach Michel Foucault

Let’s Talk About Sex

Seite 2

Der Stein des Anstoßes, der zur queertheoretischen Begeisterung und zur kritisch-theoretischen Ablehnung führte, ist »Der Wille zum ­Wissen«. Darin argumentiert Foucault, das von Teilen der Linken gezeich­nete Bild von Sexualität sei unangemessen: Linke Theoretiker der Sexualunterdrückung wie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse sähen Sexualität als eine überhistorische Konstante und ihre Unterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft als ein von der sexuellen Revolution zu bewältigendes drängendes Problem. Tatsächlich verhalte es sich aber ganz anders: Das Sprechen über Sexualität werde in der Moderne keineswegs unterdrückt, sondern permanent herausgefordert, etwa durch die Sexu­alwissenschaft und die Psychoanalyse. Sexualität sei darüber hinaus ein Wissensgegenstand, der erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts als solcher konstituiert worden sei. Durchdrungen von »Macht« werde Sexualität in der Moderne zum »biopolitischen« Instrument der Disziplinierung von Bevölkerungen, so Foucault.

Es wird deutlich, dass Foucault ­einen ganz anderen Begriff von Sexualität hat als die psychoanalytisch geprägten Theoretikerinnen und Theoretiker der bundesdeutschen Linken. Während diese von der Unterdrückung der Sexualität in ihren psychischen und praktischen Dimensionen sprachen, fasste jener »Sexua­lität« als einen Wissensgegenstand, als das Produkt des Redens über sie. Für die psychische Realität der Sexualität, für tatsächliche sexuelle Praxis interessiert sich der Foucault des ersten Bandes von »Sexualität und Wahrheit« nicht, anders als der Foucault, der sich in späteren Interviews über schwule Sexualität und Sadomasochismus äußerte. Heiders Vorwurf, Foucault mystifiziere im Anschluss an de Sade und George Bataille die Sexualität, mag bezüglich einige Äußerungen in Interviews angemessen sein, für »Der Wille zum Wissen« geht er fehl. Ganz im Gegenteil: Foucault verflacht hier Sexualität zu ­einem rein diskursiven Gegenstand. Damit geht einher, dass er die Zurichtung und Unterdrückung tatsächlicher Sexualität aus seinem Projekt einer Sexualitätsgeschichte eskamotiert. Das wäre diesen Band vorzuwerfen.
Auf die Provokation von »Der Wille zum Wissen« folgten mit den beiden Folgebänden eingehende Studien über den antiken Komplex der aph­rodisia, der Dinge, die mit der Göttin Aphrodite zu tun haben. So nennt Foucault an die griechischen Texte anschließend die diskursive Konstellation, die er vom modernen ­Begriff der Sexualität abgrenzen will. An die Stelle der Polemik gegen die marxistische Linke und die Psychoanalyse tritt ein Interesse am Selbstbezug des Subjekts, wie es in den antiken Texten zutage tritt, ein Interesse, das weniger deutlich (ab-)wertet. Mit dem Rückgriff auf die Antike änderte sich Foucaults Projekt deutlich.

Der nun erschienene vierte Band zeigt Foucault als differenzierten Analytiker eines erstaunlichen Moments in der Geschichte der Sexualität. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung greifen christliche Autoren das in den beiden Vorgängerbänden analysierte System einer Ökonomie der aphrodisia auf. Wie in den antiken Philosophenschulen und bei den paganen Medizinern steht zunächst die Frage im Mittelpunkt des Interesses, zu welcher Zeit man welchen Sex in welchem Maß und zu welchem Zweck haben soll. Doch in drei Bereichen kommt es nach Foucaults Analyse zu einer fundamentalen Neuformierung des ­Gegenstands: in der Buße, in der Askese und im Eheleben.