Vom Verschwinden linker Militanz

Ungehorsam statt militant

Ziviler Ungehorsam erfreut sich großer Beliebtheit, ob bei Protesten für Klimaschutz, gegen Naziaufmärsche oder gegen Abschiebungen. Doch zugleich nimmt linke Militanz ab.

Ziviler Ungehorsam erlebt derzeit einen Hype, wie es ihn lange nicht gab. Ob die Gruppe Extinction Rebellion (XR), die Anfang Oktober eine Woche lang mit Blockaden versuchte, die Straßen Berlins lahmzulegen, oder Sitzblockaden gegen Naziaufmärsche im ganzen Land – wer protestiert, versucht das derzeit meist mit Mitteln, die unter dem Begriff »ziviler Ungehorsam« zusammengefasst werden.

Dass ziviler Ungehorsam so beliebt ist, hängt auch mit einer Krise linksradikaler Militanz zusammen.

Die Renaissance des zivilen Ungehorsams in Deutschland ist eng verbunden mit der »Interventionistischen Linken« (IL). Zum G8-Gipfel 2007 im Ostseebadeort Heiligendamm war das Bündnis erstmals in Erscheinung getreten. Der Plan war damals, das Gipfeltreffen von außen zu blockieren und die Zufahrtsstraßen mit Demonstranten zu verstopfen. Das gelang zwar nicht vollständig, war für die beteiligten Menschen aber deutlich angenehmer, als sich wie bei früheren Gipfeln an »Roten Zonen« abzuarbeiten und dabei von der Polizei verprügeln zu lassen. 

Von 2009 bis 2012 erwies sich die Taktik der massenhaften Blockade beispielsweise in Dresden als Erfolgsrezept. Bis dahin waren jeden Februar bis zu 10 000 Neonazis anlässlich des Jahrestags der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg aufmarschiert. Nach mehreren blockierten Großaufmärschen gaben die Veranstalter entnervt auf. Zwar gibt es um den 14. Februar noch immer rechtsextreme Demonstrationen, diese werden aber nur noch von regionalen Kameraden ­besucht und finden oft wenig öffentlichkeitswirksam in Außenbezirken statt. Das antifaschistische Erfolgsmodell aus Dresden versuchten in der Folge viele Gruppen auf ihre Städte zu übertragen. Das war mal mehr und mal weniger erfolgreich. Aber die Formen des zivilen Ungehorsams wurden in der radikalen Linken immer beliebter.

Für die wohl spektakulärsten Fälle zivilen Ungehorsams der vergangenen Jahre in Deutschland ist die Klimaschutzbewegung verantwortlich. Das Bündnis »Ende Gelände« hat es seit 2015 in jedem Jahr geschafft, Infrastruktur des Braunkohleabbaus im Rheinischen Revier und in der Lausitz zu blockieren. 2015 beteiligten sich rund 1 000 Menschen am Gang in die Grube des Tagebaus Garzweiler, beim letzten Mal im Juni waren es 6.000, die die Bahnschienen eines Kohlekraftwerks blockierten und wieder in die Grube gingen. Die Aktionen des Bündnisses werden stetig größer und finden immer mehr Unterstützerinnen und Unterstützer. Außerdem sind nicht mehr nur die Kohlegruben die Protestorte der Klimabewegung. Mitte September blockierten Hunderte Demonstranten die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt am Main. Autofans war es am Tag der Blockade zwar möglich, die Messe zu besuchen, sie mussten dafür allerdings Umwege in Kauf nehmen; an den verbliebenen Messe­eingängen bildeten sich lange Schlangen. Die Blockierer des Bündnisses »Sand im Getriebe« forderten eine radikale Verkehrs­wende. 

 

Ein Akt des Ungehorsams ist es auch, dass Tausende Schülerinnen und Schüler an jedem Freitag ihre Schulen trotz Schulpflicht verlassen, um bei den Demonstrationen von »Fridays for Future« eine bessere Klimapolitik zu fordern. Bei den Protestformen auf der Straße ist die Bewegung allerdings noch, bis auf einzelne Ausnahmen, zurückhaltend.

Die Bewegung für Klimagerechtigkeit ist aber nicht die einzige, die sich den zivilen Ungehorsam zunutze macht. Auch Abschiebungen werden immer wieder durch Blockaden verhindert. Einen der bekanntesten Vorfälle gab es im Frühjahr 2017, als Hunderte Schüler einer Berufsschule in Nürnberg die Abschiebung ihres Mitschülers Asef N. nach Afghanistan blockierten. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Pfefferspray ein, um den jungen Mann abtransportieren zu können. Die Kritik am Polizeieinsatz und die große Aufmerksamkeit für den Fall trugen dazu bei, dass Asef N. nicht abgeschoben wurde. Die Erfolge bei der Verhinderung von Abschiebungen führten dazu, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in die jüngste Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes, des sogenannten Hau-ab-Gesetzes, ­einen Paragraphen einbaute, der Termine und Planung von Abschiebungen zum Dienstgeheimnis erklärt. Behördenmitarbeiter, begehen seither eine Straftat, wenn sie solche Details preisgeben.

Auch ziviler Ungehorsam ist mitunter strafbar. Die junge Atomkraftgegnerin Clara Tempel ging sogar für sieben Tage ins Gefängnis. Im Sommer 2016 war sie gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiterinnen und Mitstreitern auf den Bundeswehrstützpunkt Büchel in der Eifel eingedrungen und hatte sich dort auf die Start- und Landebahn gesetzt. In Büchel lagern ÚS-amerikanische Atomwaffen. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe würden deutsche Tornado-Piloten die US-Atom­bomben in ihr Zielgebiet bringen. 

Tempel und die anderen Mitglieder des »Jungen Netzwerks für politische Aktionen« kritisieren, dass in Büchel regelmäßig der »atomare Massenmord« trainiert werde, und sehen sich deswegen moralisch dazu verpflichtet, dagegen vorzugehen. Der Argumentation schlossen sich die Gerichte in Cochem und Koblenz nicht an und verurteilten Tempel zur Zahlung einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen. Für 23 Tagessätze kamen Unterstützer auf. Die restlichen sieben Tagessätze saß Tempel im Sommer 2019 als Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Hildesheim ab. Der Gefängnisaufenthalt war für sie eine Fortsetzung der Aktion auf dem Flugfeld. Tempel sagte, sie wolle anderen Menschen die Angst vor dem Gefängnis nehmen, damit alle »freier entscheiden« könnten, welche Aktionen sie im Kampf für eine »gerechtere Welt« für richtig hielten.

 

Dass ziviler Ungehorsam derzeit so beliebt ist, hängt auch mit einer Krise linksradikaler Militanz zusammen. Bis auf Ausnahmeerscheinungen wie den G20-Gipfel in Hamburg 2017 und Zusammenstöße in militanten Soziotopen wie der Rigaer Straße in Berlin und im Hambacher Forst ist die Zahl der direkten Konfrontationen mit der Polizei in den vergangenen Jahren merklich zurückgegangen. 

Die Aufrüstung der Polizeibehörden ist ein Grund für diesen Rückgang. Beweissicherungseinheiten mit hochauflösenden Kameras stehen bei potentiell konfrontativen Anlässen heutzutage an jeder Straßenecke. Wer einen Stein wirft, muss damit rechnen, gefilmt und früher oder später festgenommen zu werden. Auch fallen Strafen oftmals höher aus als noch vor wenigen Jahren. Eine Rangelei mit Polizisten kann heutzutage härtere Konsequenzen haben, denn seit 2017 gibt es den Straftatbestand des tätlichen ­Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, der mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Aktionen des zivilen Ungehorsams bergen da ein ­geringeres Risiko. 

Maßgeblich für den Erfolg des zivilen Ungehorsams dürfte aber dessen leichte Praktizierbarkeit sein. Sich vor einen Naziaufmarsch oder ein Kohlekraftwerk zu setzen, ist fast jedem möglich. Es bedarf weder einer großen inneren Überwindung noch besonderer Fähigkeiten. Und weil sich die Prinzipien unabhängig vom konkreten Ziel der Aktionen ähneln, ist es für viele Menschen leicht, sich an ihnen zu beteiligen. Der erfahrene Kohlegegner weiß, was auf ihn zukommt, wenn er sich vor eine Nazidemonstration auf die Straße setzt, die Antifaschistin kann wiederum erahnen, was passieren wird, wenn sie mit »Ende Gelände« in eine Kohlegrube geht. Nicht zu vernachlässigen ist wohl auch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit bei solchen Aktionen. Ein Kohlebagger, der anhält, weil Menschen in der Grube sind, ist ein Erfolg, den die Beteiligten sofort sehen können.