In Bolivien halten die Proteste an, die Zahl der Todesopfer steigt

Bolivien auf der Kippe

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Die Lage in Bolivien ist besorgnis­erregend. Dem Rücktritt von Morales am Sonntagabend folgten Rücktritte der meisten Ministerinnen und Minister und Dutzender Abgeordneter des MAS. Die neue Interimspräsidentin Áñez, eine konservative Anwältin, war nach dem Rücktritt der Senatspräsidentin, Adriana Salvatierra (MAS), die ranghöchste Politikerin, die einer Übergangsregierung vorstehen kann, so wie es die Verfassung für den Fall des Rücktritts des Präsidenten regelt. Auf die Einhaltung der Verfassung ­hatten auch die Wahlbeobachter der OAS gedrängt, die am 10. November den Betrug bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober in mehreren Punkten nachgewiesen hatten. Präsident Morales hatte dies anerkannt und zunächst Neuwahlen angekündigt, bevor er sich wenig später zum Rücktritt entschloss – nicht ganz freiwillig, denn Armee und Polizei hatten ihn ­angesichts der da schon drei Wochen währenden Proteste dazu aufgefordert. Am Dienstag vergangener Woche verließ Morales gemeinsam mit seinem Stellvertreter Álvaro García Linera das Land in Richtung Mexiko, wo sie humanitäres Asyl erhielten.

Morales behauptet nun aus dem Exil, es habe ein Putsch gegen ihn stattgefunden. Nach seinem Rücktritt gingen seine Anhängerinnen und Anhänger in vielen Städten Boliviens gegen die Übergangs­regierung auf die Straße. Am ­vehementesten im Chapare, wo es am Freitag und Samstag vergangener Woche mindestens neun Tote gab, als Polizei und Armee, die Tausende Cocaleros an einer Brücke aufhielten, scharf schossen. Die Interimsregierung hatte ihnen eine Sondervollmacht gewährt, der zufolge sie strafrechtlich nicht belangt werden können, wenn sie versuchen, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Die Inter­amerikanische Menschenrechtskommission bezeichnete das entsprechende Dekret 4 078 als Verletzung internationaler Normen. Auch Gandarillas macht es für die Eskalation der Ge­walt verantwortlich, denn Bilder zeigen, wie gezielt auf Protestierende geschossen wurde.

»Jetzt ja, Bürgerkrieg«, heißt einer der Schlachtrufe der MAS-Anhänger, etwa in El Alto, der indigen geprägten Nachbarstadt des Regierungssitzes La Paz. Von El Alto aus zogen vergangene Woche Demonstrationen runter nach La Paz. Über das Wochenende ist es dort ruhiger geworden, wofür auch die verstärkte Polizeipräsenz gesorgt hat. Die Interimsregierung ernannte neue Leiter für Polizei und Armee, die ihre harte Linie unterstützen. Die konservativ regierten Nachbarländer Kolumbien und Brasilien sowie die USA und Russland – immerhin ein Partner der Regierung Morales – haben die neue Regierung anerkannt. Auch Deutschland und andere Staaten begrüßten deren Bildung.

Die Übergangsregierung hat ihr Mandat nur für 90 Tage, um Wahlen zu organisieren, die im Januar stattfinden könnten. Viele Entscheidungen deuten jedoch darauf hin, dass sie weitergehende Pläne hat; so etwa ihre Ankündigung, aus regionalen Bündnissen wie der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika – Handelsvertrag der Völker (ALBA) auszutreten.