In Bolivien halten die Proteste an, die Zahl der Todesopfer steigt

Bolivien auf der Kippe

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Áñez habe ein »Kabinett der harten Hand vorgestellt«, sagt Mario Rodrigúez, ein Radio­journalist vom Kulturzentrum Wayna Tambo aus El Alto. »Wir haben es mit vielen Vertretern der Demokratischen Partei aus Santa Cruz zu tun, die die Camacho-Linie verfolgen«, meint er. Luis Fernando Camacho ist ein erzkonservativer, bibelfester ­Anwalt, der sich in den vergangenen Wochen als Widerpart Morales’ und des MAS profiliert hat. Persönliche Vertraute Camachos gehören dem Kabinett an, etwa der Präsidialminister Jerjes Justiniano und Innenminister ­(offiziell »Regierungsminister«) Arturo Murillo. Dies sei ein Grund dafür, dass die Behörden repressiv gegen die Proteste vorgingen, meint Rodríguez – anders als bei den Protesten der Opposition zuvor. Er habe aber auch fest­gestellt, dass die Proteste in La Paz nachließen.

In El Alto sei das auch der Fall. Dort diskutierten Nachbarschaftskomitees am Donnerstag vergangener Woche über das weitere Vorgehen. Viele Angehörige der indigenen Bevölkerung fühlen sich um »ihre« Regierung geprellt und befürchten eine neue »weiße Vorherrschaft«, wie Sprechchöre und Videos von Versammlungen belegen. Die Befürchtungen wurden unter anderem durch Bilder verstärkt, die in sozialen Medien kursieren und zeigen, wie Polizisten die »Whipala« von ihren Uniformen entfernten. Diese mit Quadraten in Regenbogenfarben verzierte Flagge symbolisiert verschiedene indigene Gruppen der Anden und wurde 2009 als zweite Flagge Boliviens eingeführt.

Dass es in La Paz im Vergleich zu den ersten Tagen vergangener Woche kurzzeitig ruhiger geworden ist, könnte auch daran liegen, dass dem MAS ­derzeit Führungsfiguren fehlen und die Bewegung sich neu orientieren muss. Zwischen der Interimsregierung und einigen der MAS-Abgeordneten hat es erste Gespräche gegeben, weitere sollen folgen. Für Entspannung soll auch die Berufung einer indigenen Kulturpolitikerin aus El Alto in die Interimsregierung sowie die Entsendung des UN-Vermittlers Jean Arnault sorgen. Áñez behauptet, dass es keinen Staatsstreich gegeben habe und die Aussagen von Morales aus dem Exil wenig hilfreich seien. »Ein Exilierter hat nicht das Recht, politische Erklärungen an die Bevölkerung seines Herkunftslandes abzugeben«, sagte sie an die Adresse der mexikanischen Regierung.

Der Radiojournalist Rodríguez meint: »Für Evo Morales ist die Rückkehr nach Bolivien durchaus ein Ziel, auch wenn das mit der Konstituierung der Regierung und der Aufnahme ihrer Arbeit nicht wahrscheinlicher wird.« Diese Einschätzung teilt auch Gandarillas, wobei er innerhalb des MAS erste Fraktionsbildungen ausmacht. »Auf der ­einen Seite fehlt der Kopf, auf der anderen machen sich die MAS-Abgeordneten auch Gedanken über ihre politische Zukunft«, sagt er.

Doch der Partei fehlen Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen. Der Wahlbetrug hat ihr geschadet und dem rechten und dem bürgerlichen Lager in die Hände gespielt. Letzteres vertritt Carlos Mesa, der Gegenkandidat von Morales bei den Wahlen am 20. Oktober. Er war bereits von 2003 bis 2005 Präsident und unterstützt die Interimsregierung, weil sie das Machtvakuum beseitige. Auch er ist der Meinung, dass die Ernennung der Interimspräsidentin verfassungskonform erfolgt sei. Diese Einschätzung ist vor allem innerhalb des MAS umstritten, denn die Verfassung schreibt vor, dass das Parlament den Rücktritt von Morales und anderen Mandatsträgern erst annehmen muss. Dies ist aber nicht geschehen – unter anderem, weil die Abgeordneten nicht zusammengekommen sind. Auf diesen Formfehler stützt sich auch Morales. 
Es könnte noch dauern, bis das Land zur Ruhe kommt.