Sexismus im Profisport

»Dünner, dünner, dünner«

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2015 stieg Mary Cain aus dem NOP aus. Ihre Aussagen decken sich mit denen, die mittlerweile von vielen ihrer ehemaligen Kolleginnen bekannt wurden. Salazars Gewichtsobsession und das Mobbing betrafen vor allem Frauen. Die Langstreckenläuferin Amy Yoder Begley, wurde 2011 aus dem Projekt geworfen: »Mir wurde gesagt, ich sei zu fett und hätte den dicksten Hintern an der Startlinie«, sagte sie der New York Times. Bei Langstreckenläuferin Kara Goucher kommentierte Salazar nach ihrer Schwangerschaft die Größe ihrer Brüste, und zu dick fand er Goucher ebenfalls. 

Das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern ist der erste, sehr offensichtliche Skandal beim NOP – allerdings ist dieses Gefälle so üblich im Sport, dass es schwerfällt, davon überrascht zu sein. Das NOP war ein Projekt von Männern, die die Karrieren junger Frauen steuern und bestimmen wollten. So ist es fast überall im Spitzensport der Frauen. Beim NOP nutzten die Trainer ihre Machtposition aus. Sie mussten sich vor niemandem rechtfertigen, weil es sich bei dem Projekt nicht um einen Verein handeltete, es keine öffentliche Kontrolle gab und niemand nachfragte. 

In einer Stellungnahme reagierte Nike floskelhaft auf die Anschuldigungen der Athletinnen. Zudem versuchte der Konzern, Cains Geschichte unglaubwürdig erscheinen zu lassen, indem er darauf hinwies, dass sie im April ins Projekt habe zurückkehren wollen. Das Mobbing habe Cain damals nicht erwähnt. Doch bislang hat Nike es nicht geschafft, sie zu diskreditieren. 

»Wir brauchen im Sport mehr Frauen an der Macht«, sagt Cain. »Es ist ein System, das durch und für Männer designt wurde und die Körper junger Mädchen zerstört.« Solche Äußerungen häufen sich allmählich: eine ganze Weile waren Sport­lerinnen froh, wenn sie irgendwie mitmachen durften, am System rüttelten sie nicht. Vielleicht beginnt gerade eine Zeit, in der sie auch als Gestalterinnen auftreten. Cain ist nur eine von vielen, die die bisherige Zurückhaltung aufgaben. Möglicherweise ahnt noch niemand, wie viel die wachsende Wut von Athletinnen langfristig verändern könnte. 

Wahr ist aber auch: Ein NOP mit weiblichen Trainerinnen hätte zwar den Sexismus, vermutlich aber nicht die anderen Auswüchse verhindert. Die Quälereien und das Doping durch Trainerinnen im DDR-Hochleistungssport, in Russland und freilich auch im Westen zeigen, dass Trainerinnen nicht unbedingt empathischer und weniger körperschädlich vorgehen als Trainer. Es ist ein systemisches Problem. Wer schnell laufen will, muss dünn sein, dieses Motto kennt auch Cain. Wie lange würde es dauern, bis sie auch ohne diktatorischen Trainer beginnen würde, sich um des Erfolgs willen herunterzuhungern? Sehen die anderen Langstreckenläuferinnen eigentlich gesund aus mit ihren mageren Ärmchen, die an die heroinchic-Fotos der Models in den Neunzigern erinnern? 

Es ist ein offenes Geheimnis, dass vieles, was im Hochleistungssport passiert, nicht gesundheitsförderlich ist. Das liegt in seiner Natur, er ist extrem, er versucht mit allen Mitteln, Leistungsgrenzen zu verschieben. Aber ist das der einzige Spitzensport, den wir uns vorstellen können? 

Die Diskussion über die körperliche Misshandlung und das Mobbing beim NOP ignoriert das System, das solche Trainingsprogramme hervorbringt. Darüber spricht kaum jemand; obwohl es nötig wäre, um derartige Fälle zu verhindern. Es ist ein System, in dem Konzerne an Macht gewinnen. Wenn dasselbe Unternehmen, das Verbände und Komitees einer Sportart sponsert, die Sportlerinnen und Sportler auch trainieren lässt, wird es zu einer Art Superverband. Die jüngeren Proteste von Nike-Athletinnen wegen finanzieller Einbußen während Schwangerschaften zeigen, dass sich ein solcher Konzern von öffentlichem Druck durchaus beeinflussen lässt. Nichts ist dem Unternehmen wichtiger als sein Image. Aber ein Weltkonzern ist ein völlig anderer Gegner als etwa der US-amerikanische Turnverband, der sich im Skandal um den jahrzehntelang für den Verband tätigen Arzt und verurteilten Sexualstraftäter Larry Nassar recht schnell hilflos zeigte.