Essay - Über die Aktualität des autoritären Charakters

Hass, Identität und Differenz

Seite 4
Essay Von

Wie Samir Gandesha ausführt, impliziert Neoliberalismus zumindest drei Dimensionen: Umverteilung nach oben, Deregulierung und Privatisierung sowie Rückbau des Sozialstaats. Der Staat ist auf die Maximierung der Nutzbarmachung selbst­optimierter und selbstorganisierter Individuen ausgerichtet. Darin folgt er Michel Foucaults Begriffen der Gouvernementalität, verstanden als Führung zur Selbstführung. Der Neoliberalismus verlagert Verantwortlichkeiten, die vordem im Geltungsbereich des Staates angesiedelt waren, auf die Individuen, die nun ein unternehmerisches Verhältnis zu sich selbst annehmen sollen. Diese sind vollends zur Verlängerung der gesellschaftlichen Institution geworden und verlieren zunehmend das Potential, in Opposition zum System zu treten. War das Individuum von Beginn an Ausdruck der kapitalistischen und patriarchal organisierten Gesellschaft, so wird es nun zum Inbegriff des Systemerhalts schlechthin. Das alles geschieht in ideologischem Rückgriff auf die aufklärerischen Ideale von Autonomie, Würde und Selbstverwirklichung und verbindet sich mit der Rhetorik und den Praktiken der Wahlfreiheit und Selbstveränderung. Der ideologische Zug dieser Rhetorik wird in den zeitgenössischen neoliberalen Formen der »Regierung auf Distanz« (Rogers Brubaker) deutlich, die auf der Basis geregelter Entscheidungen einzelner Bürgerinnen und Bürger funktionieren, die als Subjekte von Entscheidungen und Bestrebungen zur Selbstverwirklichung verstanden werden.

Der autoritäre Charakter erweist sich als zäh und anpassungsfähig, um Differenz geht es jedoch immer. Sie wird einmal gehasst und einmal verehrt. 

Das neoliberale Individuum liest sich wie die Antithese zu Adornos emphatischem Begriff des reflektierenden und urteilsfähigen Individuums. Der neoliberale Individualismus erweist sich als herrschafts­stabilisierende Ideologie, die geradewegs in die Kollektivierung als Ersatzbildung führt. Deshalb ist die Frage, ob die zentrale Bedeutung des Individualismus in der neoliberalen Ideologie einen Einspruch gegen Adornos Betonung des Individuums gegenüber dem Kollektiv impliziert, falsch gestellt. Denn das nationalistische und ethnozentrische Kollektiv ist tatsächlich nur die Kehrseite dieses neoliberalen Fake-Individualismus, der in Vereinzelung und sozialer Atomisierung besteht. Die solcherart zugerichteten Individuen können sich nicht mehr auf ein gemeinsames sinnstiftendes Ziel verständigen. Sie sind nur noch abstrakte und verstreute Partikularitäten, die den Bruch mit dem Ganzen autoritär kitten durch Identifikation mit einem Kollektiv, das die eigene Einsamkeit und Verunsicherung aufzuheben verspricht. Je mehr also Individualisierung propagiert wird in einer Gesellschaft, die das Individuum permanent und nachhaltig abwertet, desto größer wird auch das Bedürfnis nach Kollektivierung und der Ruf nach dem starken Führer.

Das ist aber keine individuelle Unzulänglichkeit, sondern eine allgemeine gesellschaftliche Disposition. Durch ihren abstrakten Individua­lismus produziert die neoliberale Gesellschaft selbst das antiindividualistische Bedürfnis nach voller Identifizierung mit einer Gruppe. Auch das ist Anpassung an die bestehende ­Irrationalität. Die Einzelnen handeln im Grunde rational in der Irrationalität, wenn sie in autoritärer Rebellion gegen geschwächte »Eliten« populistischen Führern nachlaufen, um eine neue selbsternannte »Elite« einzusetzen.