Essay - Über die Aktualität des autoritären Charakters

Hass, Identität und Differenz

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Das autonome Individuum bleibt dabei freilich erst recht auf der ­Strecke. So notwendig die Kritik an der Vorstellung eines unvoreingenommenen und universellen Subjekts ist, so falsch ist doch gleichzeitig die Auflösung des Subjekts in blanke Partikularität und Unmittelbarkeit, die in der vorgeblich unvermittelten, gelebten Erfahrung liege. Es geht auch anders: Erfahrung und Subjektivität als universelle Konzepte können mit Pluralismus versöhnt werden und gelebte Erfahrung muss nicht autoritär einer falschen Unmittelbarkeit verhaftet bleiben. Das befreiende Potential einer rettenden Kritik am Universalismus hat feministische kritische Theorie aufgezeigt, insbesondere die Arbeiten von Seyla Benhabib. Es wurde verdeutlicht, dass es dieselbe Gesellschaft, dieselbe Problematik ist, die unterschiedlich erfahren wird. So kann gelebte Erfahrung auch bedeuten, das eigene Leben und den eigenen Körper nicht isoliert, sondern in patriarchale Sozialstrukturen verstrickt zu erfahren. Sie ist also nicht unmittelbar, kein Erstes und kein Letztes, sondern selbst Entsprungenes, das den Boden bereitet für die Erfahrbarkeit einer universellen, wenn auch vielfältigen conditio humana durch die Linse der Pluralität. Einem universalistischen Feminismus geht es nicht um die Anerkennung der Würde der Frau als Frau, sondern um ihre Gleichstellung als Mensch, die nicht nur Anerkennung verlangt, sondern auch die Umverteilung ökonomischer Ressourcen, wie Nancy Fraser ausführt. Identitätspolitik hingegen betont kulturelle Kämpfe vor wirtschaftlichen und politischen Kämpfen. Ihr Ziel ist die Anerkennung der Würde der ­Differenz, was entscheidend dazu beiträgt, den Horizont der Gleichheit zum Verschwinden zu bringen.

Der autoritäre Charakter erweist sich als zäh und anpassungsfähig, um Differenz geht es jedoch immer. Sie wird einmal gehasst und einmal verehrt. Beide Male ist der Unwille auffällig, durch Differenzen dialektisch hindurchzudenken. Das Er­gebnis ist jeweils ein strukturell ähnliches: verengte Identitätspolitik, die von Ausschlüssen ihren Ausgang nimmt und sie verstärkt. Es steht ­jeweils nicht das Glück der Individuen, sondern die Festigung der Gruppe im Vordergrund. Emanzipatorisches Denken aber fokussiert auf das Individuum und nicht auf Gruppenidentitäten und versucht, in der Wahrnehmung der Differenzen zwischen den Individuen das Gemeinsame nicht im Sinn einer gruppenspezifischen Erfahrung, sondern im Sinn eines ­einigenden Interesses an Emanzipation herauszustellen. Ein solches ­einigendes Interesse wäre notwendig, um dem autoritären Charakter entgegenzuwirken.

Der leicht gekürzte und überarbeitete Text beruht auf einem Vortrag, den die Autorin am 23. Januar 2019 im Literarischen Colloquium Berlin in der Reihe »Schlaglichter« unter dem Titel »Vom Hass auf Differenz zum Identitätszwang« gehalten hat. Der Vortragstext erscheint demnächst in einem Sammelband zum autoritärem Charakter, der vom Rosa Salon Trier im Verbrecher-Verlag herausgegeben wird. Das Originalmanuskript enthält einen ausführlichen Fußnotenapparat. 


Karin Stögner ist Professorin für Soziologie an der Universität Passau. Sie ­beschäftigt sich mit Gesellschaftstheorie, insbesondere kritischer und feminis­tischer Theorie, politischer Soziologie, Soziologie der sozialen Ungleichheit und Soziologie der Geschlechterverhältnisse. Sie ist Autorin u. a. von »Anti­semitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen« und Koautorin von »AfD und FPÖ. Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder«.