Massendemonstrationen im Irak

Vereint im Protest

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atürlich treiben vor allem wirtschaftliche Not, hohe Arbeitslosigkeit und der Unmut über die grassierende Korruption die Menschen auf die Straße. Ihre Forderungen, so vage sie manchmal klingen mögen, sind allerdings hochpolitisch und stellen nicht nur das System im Irak, sondern auch das im Iran in Frage. Denn das iranische Regime betrachtet und behandelt sein Nachbarland längst als Teil seines neuen Imperiums.

Umso bedrohlicher ist für den Iran, dass sich der einflussreiche irakische Klerus, dessen wichtige Repräsentanten es nie mit der theokratischen Regierungsform einer »Islamischen Republik« hielten, inzwischen offen auf die Seite der Protestbewegung stellt. Am Freitag vergangener Woche wurde Großayatollah Ali al-Sistani, der wichtigste schiitische Geistliche im Irak, bei einer Predigt in Kerbala so deutlich wie nie zuvor. Er forderte die Demonstrierenden auf, so lange auf der Straße zu bleiben, bis es zu wirklichen Reformen im Irak kommt. Klare Worte rich­tete er auch an den Iran: Andere Staaten hätten sich aus irakischen Angelegenheiten herauszuhalten. Al-Sistanis Stimme wiegt nicht nur im Irak schwer, auch für das iranische Regime dürfte es immer schwieriger werden, die heimischen Proteste mit bloßer Härte zu beenden, ähnlich wie 2009 oder später in Syrien. Auslöser der Massenproteste im Iran war die Erhöhung der Benzinpreise in der vergangenen Woche, am Wochenende kam es vielerorts zu Ausschreitungen. Das Regime reagierte unter anderem mit einer Blockade das Internets.

Während anderswo im Irak noch scharf geschossen wird, solidarisieren sich im Süden des Landes bereits Polizisten und andere Ordnungskräfte mit dem Anliegen der Protestierenden und weigern sich, gegen diese vorzugehen. Die angeschlagene Regierung in Bagdad versucht derweil, durch einige Zugeständnisse bei anhaltender ­Repression die Lage unter Kontrolle zu bringen. Dass ihr dies nach über 300 Toten und Tausenden Verletzten gelingt, ist äußerst fraglich. »Sie sollten wissen, dass der Irak nach diesen Protesten nicht mehr derselbe sein wird wie zuvor«, sagte al-Sistani.
Wie schon 2011 in anderen arabischen Ländern könnte die große Stärke der jungen Protestierenden, ihre dezentrale Organisation, die weitgehend ohne ­politische Führung und Strukturen auskommt, sich später als Schwäche erweisen. Die seit Jahrzehnten anstehende politische, wirtschaftliche und kulturelle Transformation von nah­östlichen Gesellschaften und Staaten gegen den Willen der alten Führungsschicht durchzusetzen, ist eine enorme Herausforderung, die ganz anderer Strukturen bedürfte. Diese Führungsschicht zeigt im Irak bislang keinerlei Bereitschaft, ohne gewalttätige Gegenwehr abzutreten. Eher wird sie ­bereit sein, den Irak in einen neuen Bürgerkrieg zu stürzen.