Die russischen Behörden messen mit zweierlei Maß, wenn es um Gewalt gegen Frauen und Kritiker des Stalinismus geht

Wer zu viel nachfragt, macht sich verdächtig

Der russische Napoleon-Experte Oleg Sokolow hat gestanden, seine Partnerin erschossen und zersägt zu haben. Sokolow, ein Geschichts­dozent mit staatstragenden Ansichten, konnte bislang mit der Milde der Strafverfolgungsbehörden rechnen. Vertreter kritischer Organisa­tionen werden hingegen in Russland kriminalisiert.

Napoleon Bonaparte hat weder seine Geliebte erschossen noch war er Geschichtsdozent. Über 200 Jahre nach seinem missglückten Russland-Feldzug wurde am 9. November einer der – wie einschlägige Kenner der Reenact­ment-Szene behaupten – talentiertesten Napoleon-Nachahmer aus einem der Kanäle von St. Petersburg gefischt. Er war stockbetrunken und hatte die abgesägten Arme einer seiner ehemaligen Studentinnen im Gepäck. Die restlichen Körperteile der 24jährigen Doktorandin Anastasia Eschtschenko fand man später ebenfalls im Kanal und in der Wohnung von Oleg Sokolow. Der Geschichtsdozent hat den Mord bei der polizeilichen Vernehmung gestanden und bedauert. Zum angeblich geplanten Suizid in der Peter-und-Pauls-Festung in der Uniform seines Idols hat es bei dem Möchtegern-Bonaparte allerdings nicht gereicht.

Wer Nachweise für die Abgründe stalinistischer Gewaltherrschaft liefert, sieht sich medialen Diffamierungskampagnen und strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt.

Sokolow hat sich als ausgewiesener Experte für die napoleonische Epoche weit über Russland hinaus einen Namen gemacht. In Frankreich ist er Träger des Ordens der Ehrenlegion. Die russische Militärhistorische Gesellschaft, deren Mitglied er war, reagierte umgehend und löschte nach Bekanntwerden des Mordes auf ihrer Website alle Hinweise auf den Historiker. Auf Nachfragen von Journalisten dazu reagierte ­deren Gründer und Vorsitzender, der russische Kulturminister Wladimir Medinskij, genervt: »Früher haben alle nach dem Joker gefragt, jetzt nach Oleg Sokolow. Wo ihnen der Joker so gut gefällt, warum mögen sie dann Oleg Soko­low nicht?«

Medinskij jedenfalls mochte den auch in russischen Kinos gezeigten Film »Joker« nicht, aber sein Vergleich hinkt. Sokolow stand nie auf der Verliererseite, war nie Außenseiter, sondern immer Gewinner und verkehrte in elitären Kreisen. Er gehört zu den Initiatoren der Nachstellung der Schlacht von Borodino von 1812, die weder die französische noch die russische Armee gewann – eines der opferreichsten ein­tägigen Kriegsereignisse jener Zeit. Das hält weder Frankreich noch Russland bis heute davon ab, den Sieg für sich zu reklamieren.

Zur Schlachtinszenierung im Jahr 2007 brachte der unter seinen Stu­dierenden als exzentrisch und jähzornig geltende Sokolow 300 Kilogramm Schießpulver mit und hetzte sein Regiment gegen ein anderes auf. Die Szene sollte nicht nur echt wirken, sie artete in eine reale Massenschlägerei aus, die auch die später eintreffende Polizei einbezog. Sokolow soll sich darüber empört haben, dass das Museum, das diese Spektakel ausrichtete, einen US-amerikanischen Napoleondarsteller eingestellt hatte. Der Bonaparte von der Newa musste lediglich eine schriftliche Schilderung der Vorgänge ein­reichen und blieb ansonsten unbehelligt. Bereits im Jahr 2008 misshandelte Sokolow seine damalige Lebensgefährtin, die zuvor ebenfalls seine Studentin gewesen war, schwer. Er fesselte sie an einen Stuhl, prügelte auf sie ein, hielt ihr ein heißes Bügeleisen vors Gesicht und drohte, sie umzubringen. Die Frau erstattete Anzeige, aber die Polizei blieb untätig. Das ist in Fällen sogenannter häuslicher Gewalt in Russland nicht unüblich. Seit 2017 gilt häusliche Gewalt in Russland als bloße Ordnungswidrigkeit, soll allerdings bald wieder zur Straftat erklärt werden.