Sophie Calles Kolumnen erscheinen bei Suhrkamp

Der radikale Flirt

Vor 36 Jahren löste eine Kolumne der französischen Konzept­künstlerin Sophie Calle einen Eklat aus. Der Suhrkamp-Verlag ­veröffentlicht die Texte jetzt in deutscher Übersetzung.

Was für eine Geschichte! Man verfolgt sie mit derselben atemlosen Spannung, mit der man einen eleganten Noir-Roman liest. Alles begann im Juni 1983 in der Rue des Martyrs in Paris mit einem verlorenen Adressbuch, das der französischen Konzeptkünstlerin Sophie Calle in die Hände fiel. Calle nutzte den Fund für ein aufsehenerregendes Experiment, das sie in ihrer Kolumne in der französischen Tageszeitung Libération in Texten und Bildern dokumentierte. Bevor sie das Verzeichnis anonym an den Besitzer Pierre D. zurückschickte, hatte sie sämtliche Seiten des Adressbuchs kopiert. Den Namen und die Anschrift D.s hatte sie dem Buch entnommen, ansonsten wusste sie zunächst nichts über ihn. Im nächsten Schritt telefonierte sie seine Kontakte ab und bat diese um ein Treffen. Sie erklärte ihr Vorhaben in groben Zügen. Die Leute wussten, dass sie Auskunft über jemanden geben sollten, den sie kannten, erfuhren aber erst in der Interviewsituation, dass es um D. ging. Entsprechend spontan äußerten sie sich. Befragt wurden Bekannte, Kollegen und Liebschaften, mit denen sich die Künstlerin in Cafés traf. »Ziel des Ganzen war es, diesen Mann kennenzulernen, ohne ihn je zu treffen«, schreibt Calle im Vorwort zu dem bei Suhrkamp erschienenen Band »Das Adressbuch«, der die in Libération erschienenen Fotografien und Texte enthält. 

Die Kommunikationstechnologien Anfang der Achtziger sind der Recherche eingeschrieben. Heutzutage würde man den Namen des Fremden googeln und würde bei D. wohl auch fündig werden. Damals, in Zeiten der Festnetzanschlüsse und Anrufbeantworter, wurde zum Hörer gegriffen. Das völlige Unwissen, um was für einen Menschen es sich bei D. handelt, macht den Reiz der Recherche aus. Es bedeutet aber auch, eine Person ungefragt aus der Anonymität des Privaten zu reißen.

Das zum Auftakt der Serie veröffentlichte Schwarzweißfoto des Fundstücks gab den Lesern und Leserinnen einen vagen Hinweis auf die Person des Besitzers: Es zeigt ein abgegriffenes Telefonverzeichnis, das am Fuß eines Cafétischs liegt, wo es offenbar verloren und von der Künstlerin ­gefunden worden war.

Calles zählte 408 Kontakte; in der Mehrzahl waren es Pariser Anschriften, aber auch viele italienische sowie internationale fanden sich. Anmerkungen wie »Othello V2« oder »British Film Institute« deuteten darauf hin, dass der Fremde demselben Intellektuellenmilieu entstammte wie die Künstlerin selbst.

Marie-France, die vor längerer Zeit mit D. eine Affäre hatte, lernte ihn an der Uni kennen (Bild oben). Das Foto der Sessel ist der zweiten Kolumne der Serie zugeordnet. Thierry L., ein entfernter Bekannnter von D., ist lediglich bereit, dessen Aussehen zu beschreiben (Bild unten).

Bild:
Sophie Calle/Suhrkamp Verlag

Der erste Anruf galt D. Sollte er drangehen, wollte Calle »verwählt« sagen und auflegen. Es meldete sich jedoch der Anrufbeantworter. »Eine schöne Stimme«, notierte sie und verbrachte den folgenden Nachmittag flanierend in »seinem« Viertel. Sie schaute sich das Haus an, in dem er wohnte; überlegte, in den Ladengeschäften nach D. zu fragen, traute sich aber nicht und verschob das Vorhaben. Der Flirt ist nicht nur Teil der dramaturgischen Komposition, die nicht zuletzt mit der Erwartung des Publikums spielt, dass es am Ende der Fortsetzungsgeschichte zu einer erotischen Begegnung komme. Aber auch Calle spielte ganz ernsthaft mit dem Gedanken: »Ich malte mir ein erstes Treffen nach meinen Vorstellungen aus, vielleicht eine ­Liebesgeschichte.«