Streiks und Proteste gegen die geplante Rentenreform in Frankreich

Blackout im Palast

Mehr als eine Million Menschen protestierten in Frankreich gegen die geplante Rentenreform, in vielen Branchen wurde gestreikt.

Die Diskussion in der überfüllten Straßenbahn, die einen Teil der Passagiere der bestreikten Métro transportieren muss, amüsiert die Umstehenden. Die Dame um die 40 mit algerischem ­Migrationshintergrund arbeitet für das staatliche Energieversorgungsunternehmen EDF. Sie habe am vorigen Donnerstag an der Protestdemonstration gegen die Rentenreform teilgenommen, erzählt sie, doch nur einen Teil des Tages gestreikt: »Wir müssen derzeit die Stromversorgung für Tausende von Haushalten wiederherstellen, die wegen Extremwetterlagen unterbrochen wurde. Mein soziales Gewissen veranlasst mich, die Leute nicht hängen­zulassen. Gleichzeitig wollen auch wir den Streik unterstützen.« Der Vorschlag, man könne doch den Regierungsstel­len den Strom abstellen, erheitert die Umstehenden und stößt auf Einverständnis.

Die Idee der gezielten Stromabschaltung scheint beliebt zu sein. Die Nachrichtenagentur AFP meldete am Freitag voriger Woche, dass zeitweilig im Elysée-Palast, der Residenz des Präsidenten, vorübergehend der Strom ausgefallen war. Dafür hatten Streikende gesorgt.
In Fernsehberichten war von einem »schwarzen Tag im Personenverkehr« die Rede.

Oft wurden die Fahrgäste als »Geiseln« bezeichnet. Unerfreulich war dieser Tag für die Nutzerinnen und Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel zweifellos, doch zustimmende Reaktionen auf den Streik in der Straßenbahn waren keineswegs selten. Umfragen zufolge unterstützen zu Beginn des Streiks am Donnerstag vergangener Woche Woche 58 bis 69 Prozent der Bevölkerung den Arbeitskampf. Das sind ähnliche Zustimmungswerte wie im Herbst 1995. Damals verhinderte ein vierwöchiger Streik im öffentlichen Dienst eine geplante Reform des Rentensystems.

Gestreikt wird in einer Reihe von Branchen und Sektoren. Um einen Generalstreik handelt es sich derzeit allerdings nicht. Oder auch »noch nicht«, wie Eric Beynel, der Sprecher der Gewerkschaft Union syndicale Solidaires, am vergangenen Freitag im französischen Fernsehen sagte: »Allmählich sieht die Sache ihm aber ähnlich.« Er verwies auf die Weiterentwicklung der Mobilisierung. Denn am selben Tag forderte Philippe Martinez, Generalsekretär der Gewerkschaft CGT, eine »Generalisierung des Streiks« in den ­unterschiedlichen Branchen.

Eine Hochburg der Streikbewegung ist momentan das Bildungswesen. Unter den Lehrkräften an Grundschulen betrug die Streikbeteiligung am vergangenen Donnerstag 70 Prozent. Im gesamten Bildungswesen lag sie bei 55 Prozent, in Paris erreichte sie sogar 78 Prozent. Gestreikt wurde unter anderem in Krankenhäusern, aber auch in der Chemie- und der petrochemischen Industrie und in einigen Betrieben der Stahlerzeugung.

 

Am Donnerstag voriger Woche führte in Paris ein Demonstrationszug vom Ostbahnhof zum Place de la Nation im Südosten der Stadt. Die Polizei sprach von 65 000 Teilnehmenden, die CGT von 250 000. Landesweit wurde in etwa 250 Städten wurde landesweit protestiert. Am Abend sprach das Innenministerium von 806 000, die CGT von anderthalb Millionen Protestierenden. Das französische Publikum ist es gewohnt, dass die Zahlen der ­einen Seite unter-, die der anderen Seite übertrieben sind. Die Millionengrenze an Demonstrierenden dürfte aber bereits am ersten Tag der Proteste gegen die Rentenreform überschritten worden sein. Das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl. Florian Bachelier, ein Abgeordneter der regierenden Partei La République en Marche und einer der Vizepräsidenten der französischen Nationalversammlung, räumte am späten Abend in einer Fernsehdebatte ein, eine Million Menschen seien es wohl gewesen.

Streikende Feuerwehrleute mit glitzernden Helmen bahnten sich bei der Demonstration in Paris einen Weg durch die Menge, ihnen wurde applaudiert. Einige Feuerwehrleute tanzten auf einem Gitter im Dachgeschoss eines mehrstöckigen Wohngebäudes am Boulevard Maganta. Krankenhausbeschäftigte trugen weiße Blusen und Atemschutzmasken. Die CGT, die stärkste Kraft in der Streikbewegung, und die linken SUD-Basisgewerkschaften hatten besonders gut mobilisiert. Es gab zudem einen großen Block vor den offiziellen Gewerkschaftsblöcken, in dem unter anderem Linksradikale demonstrierten. Vermummte waren jedoch anders als bei vielen Demonstrationen der sogenannten Gelbwesten eine Minderheit. Sachschäden gab es kaum.

Innenminister Christophe Castaner hatte am Vortag verkündet, für Polizisten würde es eine Sonderregelung ­geben, die ihre Rentenansprüche bewahre – während alle anderen Sonderregelungen, sofern sie günstiger ausfallen als die gesetzliche Rente, abgeschafft werden sollen. Offenbar ging es der Regierung nicht zuletzt darum, die Polizisten zu beruhigen, nachdem auch Polizeigewerkschaften und Personalvertreter zuvor eine Beteiligung an den Protesten in Aussicht gestellt hatten. Die Personalvertreter der gerichtsmedizinischen Labore der Polizei etwa hatten ihre Beteiligung an der Demonstration angekündigt.

Bei dieser waren allein in Paris 6 000 Polizisten und Gendarmen im Einsatz – im gesamten Land sollten den ursprünglichen Plänen der Regierung zufolge etwa 75 000 Polizisten, die Hälfte des vorhandenen Personals, bereitstehen. Nach Angaben der Zeitschrift Marianne waren 55 von 120 bis 130 Großverbänden der Polizei im Einsatz.

Die Streiks sollen fortgesetzt werden. In den Raffinerien wurde, etwa im Raum Marseille, am Freitag eine Fortführung des Arbeitskampfs beschlossen. An diesem Tag befanden sich Beschäftigte von sieben der acht Raffinerien in Frankreich im Streik. Neue zentrale Aktionstage mit Streiks und Demonstrationen wurden von der ­Intersyndicale, einem Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaftsverbände – unter ihnen die CGT, SUD und Force Ouvrière –, für diese Woche geplant.

Ein erster Erfolg der Proteste ist, dass die Regierung ihre Rentenreformpläne nun öffentlich machen will. ­Ursprünglich sollte dies nur Schritt für Schritt über Monate hinweg geschehen. Premierminister Edouard Philippe soll bereits in dieser Woche Einzel­heiten bekanntgeben.