Die Musikdokumentation »Miles Davis – Birth of the Cool« gerät zu geradlinig

Als die Coolness geboren wurde

Eine neue Dokumentation über Miles Davis würdigt den musikalischen Pionier, berichtet allerdings zu eindimensional über sein vielschichtiges Œuvre.

Vor knapp 30 Jahren starb Miles Davis. Begraben liegt er auf einem Friedhof in der New Yorker Bronx, sein Grab geziert von einem monumentalen Grabstein, dessen schiere Größe wie ein Sinnbild für Davis’ Einfluss auf die Entwicklung des Jazz anmutet. Die Musikindustrie lässt ihn in jedem Fall nicht ruhen; unzählige Com­pilations, Live-Alben und CD-Boxen sind seit seinem Tod erschienen und tragen seinen Namen.

Davis stellte sämtliche musikalischen Parameter des Jazz auf die Probe, jedoch ohne sie zerbrechen zu lassen.

2009 erschien eine Sammlung aller bei Columbia veröffentlichten Platten Davis’, 52 Alben auf 70 CDs, unveröffentlichtes Material und Fotos inklusive, alles mit der Akribie des Archivars zusammengestellt und fein säuberlich als Box verpackt.

Auch sein Album »Kind of Blue« wird anscheinend jedes Jahr neu aufgelegt. 2002 hat es die Library of Congress in ihr National Recording Registry aufgenommen. 2009 wurde es sogar per Resolution vom US-amerikanischen Repräsentantenhaus zum nationalen Kulturgut erklärt. »Bitches Brew« fehlt auf kaum einer Hitliste der besten Alben aller Zeiten, ebenso wie in kaum einer einigermaßen seriösen Plattensammlung, wo es allerdings als exotische und schwer zu kategorisierende Platte einzig den gu­ten Geschmack des Sammlers beweisen soll.

Es ist eine der unbestrittenen Schwierigkeiten des dokumentarischen Films, posthum ein Leben nachzuerzählen, denn die Beglaubigung des Porträtierten fehlt. Im Zuge dessen setzt der Film sich dem unabdingbaren Druck der Selbstrechtfertigung aus. Was soll warum erzählt werden und vor allem wie? Steht am Ende das kohärente Bild einer Figur oder entscheidet man ­zugunsten der Ambivalenz? Unter dieser zugegebenermaßen schwierigen Ausgangsbedingung widmet sich eine Filmdokumentation von Stanley Nelson dem facettenreichen Leben von Miles Davis.

Der Titel »Birth of the Cool« gibt die Richtung schon vor: Die Dokumentation beschäftigt sich vor allem mit dem frühen Davis, der sich rückblickend noch bequem innerhalb des tradierten Rahmens des Jazz bewegt – einer Kategorie, die Davis zeitlebens verabscheute, aber nie loswurde. Gera­de seine Fusion-Periode, in der er Jazz mit Funk und Rock verband, bleibt fast unerwähnt, nur auf »Bitches Brew« und »On the Corner« wird eingegangen. Das Material selbst fordert die Vielstimmigkeit der Erzählung ein und kollidiert an diesem Punkt mit Nelsons Strategie, der versucht, Davis’ Leben in eine stringente Erzählung zu bringen.

Miles Dewey Davis III. wurde 1926 in Alton, Illinois, am Lauf des Mississippi geboren, jenes Flusses, den John Szwed in seiner Biographie des Musikers als »Arterie des Jazz« bezeichnet. Davis’ Vater, Miles Jr., war einer der wenigen schwarzen Zahnärzte in der Region, was der ­Familie ein gesichertes Auskommen garantierte. Früh zog es Miles III. nach East St. Louis, in jenen Teil der Stadt, in dem schon damals keine strikte Rassentrennung mehr herrschte. Mit zehn Jahren bekommt er von einem Freund des Vaters das erste Kornett geschenkt, das seiner Körpergröße zunächst angemessener schien als eine Trompete.

Nach einigen privaten Übungen begann Davis in der sechsten Klasse mit professionellem Unterricht. Mit 13 schenkte ihm der Vater die erste Trompete, und im Jahr darauf begann Miles III., regelmäßig Stunden bei Joseph Gustat, dem Solotrompeter des St. Louis Symphony Orchestra zu nehmen – der in Davis den schlechtesten Trompeter zu erkennen glaubte, der ihm je zu Ohren gekommen war. Im Orchester entwickelte der Nachwuchsmusiker jedoch schon früh ein tiefgreifendes und lebenslang anhaltendes Interesse für klassische Musik.

Ab 1943 spielte Davis regelmäßig mit Eddie Randle’s Blue Devils, einer der bekanntesten Tanzbands in St. Louis. Charlie Parker hörte er erstmals bei einem Auftritt im Riviera Club. Nach dem Konzert – so beginnt gewissermaßen die große Miles-Davis-Erzählung – trug Parker ihm auf, ihn in New York City zu besuchen. Die Ostküstenmetropole war zu jener Zeit Sehnsuchtsort eines jeden aufstrebenden Jazz-Musikers. Dort, auf der 52. Straße, schlug das noch junge Herz des Bebop, seine großen ­Interpreten waren Dizzy Gillespie, Charlie Parker und Thelonious Monk.

Davis bewarb sich 1944 mit Erfolg an der renommierten Juilliard School of Music in New York. Er begann sein Studium, das ihn jedoch nach und nach immer weniger zufriedenstellte, insbesondere weil die Lehre dort fernab der aktuellen Entwicklungen des Jazz geschah und ihm das Gefühl gab, sein Spiel müsse »weißer« werden, um damit Erfolg zu haben. Er wurde zum festen Bestandteil von Charlie Parkers Quintett, wenngleich ihn dies immer unsicher ob der eigenen Fähigkeiten zurückließ, Parker wenig bestärkende Rückmeldung gab und er noch dazu unaufhaltsam dem Kokain verfiel. Seine erste Line zog er in der Garderobe von Billie Holiday.

Zusammen mit John Coltrane gründete Davis sein erstes Quintett und nahm in nur zwei Tagen vier bemerkenswerte Alben auf. Er lernt den Arrangeur Gil Evans kennen, mit dessen Hilfe das berühmte Nonett entstand, das »Birth of the Cool« einspielte.

Darauf folgte etwa Mitte der sechziger Jahre das zweite Quintett mit Herbie Hancock und Wayne Shorter, mit dem die musikalische Entwicklung begann, die in »Bitches Brew« münden sollte: Während die frühen Aufnahmen noch auf harte, schnelle, aber harmonisch aufgelöste Melodien setzten und damit in der Tradition des Bop standen, begann schon 1959 mit »Kind Of Blue« die musikalische Loslösung vom tradierten Harmonieverständnis. Die Strukturen wurden offener und die Akkorde verloren immer häufiger ihre klare Zugehörigkeit zu bestimmten Tonarten. Nicht ohne Grund lässt sich das Album auch als eine Studie in der Komposition von Klangfarben hören. Die Arrangements der Folgezeit waren merklich abstrakter und fragmentarischer. Davis’ Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Komponisten von Schönberg über Varèse bis zu John Cage schlug sich in seiner Musik nieder.

Und dann geschah etwas, das schon Bob Dylan die Hälfte seiner Gefolgschaft gekostet hatte: Miles Davis wurde elektronisch. Schon auf der Platte »Filles de Kilimanjaro« von 1968 kündigte sich diese radikale Wende als eine Art Prelude in Form der ersten Fender-Rhodes-Akkorde an. »Bitches Brew« läutete dann mit dem Beginn der Siebziger eine kurze, aber von rückhaltloser Kreativität geprägte Schaffensphase ein, in der sich Davis’ Musik mit rasender Geschwindigkeit und Vehemenz weiterentwickelte und dabei jegliche Genres hinter sich ließ. Davis stellte sämtliche musikalischen Grundsätze des Jazz auf die Probe, ohne sie zerbrechen zu lassen. Was er versuchte, war vielmehr die konsequente Auflösung jeglicher Hierarchien: Keine Melodie dominiert mehr den Rhythmus, keine Tonalität oder geschlossene Songstruktur mehr die freie Bewegung der Musik.

Ein Mann, der den Sound dieser Jahre ebenso prägte wie Davis selbst, war Teo Macero, Komponist und Arrangeur bei Columbia Records. Mit den Aufnahmen zu »Bitches Brew« entwickelte er eine neue Kompositionstechnik, die gewissermaßen das musikalische Äquivalent zur Collage darstellte. Wie auch schon bei einigen früheren Aufnahmen wurde nicht in einzelnen Takes, sondern kontinuierlich aufgenommen, so dass am Ende der Sessions ein irrsinniger Wust an Material stand, den Macero in akribischer Kleinstarbeit zerschnitt und dann neu zusammensetzte. Streng genommen ließe sich sogar sagen, dass die komplette erste Seite von »Bitches Brew«, also sowohl der titelgebende Track als auch »Pharaoh’s Dance«, in dieser Form nie tatsächlich existiert haben, sondern Produkte der Studioarbeit sind.

Erstaunlich ist, dass diese wenigen Jahre zwischen 1970 und 1975, nach denen Davis mit einer schweren Krankheit und heftigen Drogen- und Alkoholproblemen kämpfend in eine tiefe Depression versank, in der kanonisierten Erzählung des Jazz kaum auftauchen. Viele innovative Alben fristen ein Schattendasein, wie beispielsweise auch Herbie Hancocks Fusion-Platten. Eine Merkwürdigkeit angesichts der Tatsache, dass es gerade diese Platten sind, die eine Brücke zum HipHop und nahezu sämtlichen Spielarten schwar­zer Musik schlagen. Fast scheint es so, als wäre diese gewaltsame Missachtung symptomatisch für Davis’ gesamte Karriere: Auch Columbia vermarktete seine Platten gegen seinen ausdrücklichen Wunsch immer als Jazz und zwängte ihn damit in ein Korsett, dem er längst entwachsen war.

Stanley Nelsons Dokumentation beginnt mit einer farbstichigen Super-8-Aufnahme, die Davis mit freiem Oberkörper und in Shorts durch einen Boxring tänzelnd zeigt. Es ist ein wenig so, als spähe man durchs Schlüsselloch. Denn diese Szene besticht mit unvermittelter Intimität, mit etwas Voyeuristischem, das einen Blick auf Davis außerhalb seiner Rolle des Ausnahme­trompeters gewährt und ihn bei etwas zeigt, dass ihm augenscheinlich Freude bereitet. Es ist Material aus dem privaten Archiv von Corky McCoy, einem engen Freund von Davis, der unter anderem die Cover für »On the Corner«, »Water Babies« und »Big Fun« entwarf. Interessanterweise ist es gerade diese Szene, die mehrfach und ohne kontextualisierenden Kommentar auftaucht.

Denn ansonsten wird alles ausgiebig vom Voiceover des Schauspielers Carl Lumbly kommentiert, der Miles’ rauchige Flüsterstimme imitiert, Ausschnitte aus dessen Autobiographie liest und so durch die Bilderfluten navigiert. Dieser simulierte Davis ist allerdings problematisch, denn es ist gerade die Stimme, die der Dokumentation die Aura von Authentizität und Präsenz einhauchen soll. Hier beschwört der falsche Davis den richtigen und stellt – gegen die Intention der Dokumentation – Authentizität als Fabrikat heraus.

Der historische Kontext erscheint auch nur in einer in Zeitraffer durchratternden Montage von historischen Aufnahmen und Werbebildern – Miniröcke, Sportwagen, Kalter Krieg. Geschichte fungiert hier eher als ein Moodboard, vor dem sich Davis’ Leben entfaltet.

Ansonsten gibt es, was das Format der klassischen Musikdokumentation hergibt, also eine einigermaßen beeindruckende Anzahl von talking heads: Musikalische Mitstreiter wie Herbie Hancock, Jimmy Heath, Wayne Shorter oder Archie Shepp, Kritiker wie Greg Tate und Stanley Crouch und natürlich Gelieb­te wie Juliette Gréco oder Davis’ erste Frau, die Tänzerin Frances Taylor, die exemplarisch für alle Frauen spricht, die Davis’ notorischer Eifersucht zum Opfer fielen – und von ihm geschlagen wurden. Die Thematik der Gewalt gegen Frauen erwähnt die Dokumentation lediglich als Randnotiz, verfolgt sie aber nicht, wie auch die kritische Betrachtung des Ideals schwarzer Männlichkeit, das Davis verkörperte, zu kurz kommt.

Miles Davis – Birth of the Cool. Regie: ­Stanley Nelson