Die Arbeiterklasse kann die Linke auch nicht retten

Immer schön links bleiben

Die Krise der Linken ist durch eine Reorientierung auf die Arbeiterklasse nicht zu bewältigen. Die neue »Bewegungslinke« konzentriert sich dennoch auf das Konzept der neuen Klassenpolitik.

Wie kann sich die Linke im neuen Jahrzehnt orientieren? Soll sie sich auf ­Sozialpolitik in den Parlamenten oder auf neue soziale Bewegungen mit Massenprotesten konzentrieren? Johannes Simon kritisiert den populistischen Versuch der Sammlungsbewegung »Aufstehen« 

Man kann es sich auch einfach machen. Wer ironiefrei von »echten linken Inhalten« und den »klaren Wahrheiten des Linkspopulismus« spricht, die »dem Mainstream« »eingehämmert« werden sollen, betreibt eher Marketing als Gesellschaftskritik. Mit solcher Rhetorik konstatierte Johannes Simon, dass die selbsternannte Sammlungsbewegung »Aufstehen« die falsche Antwort auf die wichtige Frage gewesen sei, wie die Linke »wieder ihre eigentliche Basis erreichen« könne: »die Arbeiterklasse«.

Die schablonenhafte Vorstellung, der zufolge es lediglich eine böse Elite und eine gute Basis gibt, projiziert die »Bewegungslinke« auf die gesamte Gesellschaft.

Doch bereits die Ausgangsfrage enthält zwei tendenziöse Implikationen. Sie geht zum einen davon aus, dass es früher so etwas wie eine gesunde Nähe der Linken zur Arbeiterklasse gegeben habe; zum anderen soll die Wiederherstellung dieser Nähe zur Arbeiterklasse heutzutage die ultimative Lösung für den Aufbau einer »starken Linken« sein.

Trotz seiner kritischen Beurteilung des Sozialpopulismus des Projekts »Aufstehen« wiederholt Simon dessen populistische Entgegensetzung einer abgehobenen Metropolenlinken auf der einen und einer Linken der abgehängten Arbeiterklasse auf der anderen Seite. Wo Erstere sich lediglich um elitäre Minderheitenrechte kümmere und kein Interesse an der Klassenfrage habe, sei Letztere mit ihren existentielleren Problemen kulturell isoliert.

Tatsächlich hat ein Großteil der Linken in den vergangenen Jahrzehnten die soziale Frage in ihren Kämpfen um Anerkennung und Selbstbestimmung vernachlässigt oder sich von ihr abgewendet, wovon zuletzt die erbittert ­geführten Debatten über Queerfeminismus und Critical Whiteness zeugten. Sofern die ökonomische Ungleichheit gesellschaftlich wieder debattiert wird, ist dies ein Verdienst der sogenannten neuen Klassenpolitik.

Eine vermeintliche akademische Elite gegen eine bildungsferne Arbeiter­klasse auszuspielen, ist jedoch Ausdruck eines fetischistischen Denkens, das die bodenständige Handarbeit gegen die unbeständige Kopfarbeit rehabilitieren will. Das herzzerreißend vorgebrachte Interesse an den miesen Arbeitsbedingungen »der Supermarktkassierer, der Putzkräfte und der Fernfahrer«, denen Simon eine eigene Kolumne in der Taz wünscht, weil er sonst nichts von ihnen wüsste, überspielt mit nur mäßigem Erfolg das schlechte Gewissen und die Selbstverachtung von Akademikern. Dass mehr als zwei Drittel der Studierenden selbst zur Arbeiterklasse beziehungsweise zu den Lohnbeschäftigten gehören, weil sie ohne Nebenjob ihr Studium nicht finanzieren könnten, und 90 Prozent aller Stellen im akademischen Mittelbau befristet sind, hat nur wenig Grandezza und lässt kaum auf paradiesische Zustände an den hiesigen Universitäten schließen. Im Gegenzug bleibt unklar, warum die Arbeiterklasse, wenn sie doch »ethnisch und kulturell« gespalten ist, kein Interesse an jenen antirassistischen und antisexistischen Kämpfen der Metropolenlinken haben sollte.

Simon erkennt diese Widersprüche, drückt sich aber davor, sie aufzulösen. So bleibt die Rede von der Klasse diffus: Fragen der Organisierung überlagern solche, die den Inhalt betreffen. Damit droht die neue Klassenpolitik im besten Fall zum Durchlauferhitzer für eine neue linke Sozialdemokratie zu werden, deren hauptsächliches Ziel es wohl wäre, größer zu werden und irgendwie links zu sein. Eine sozialistische Rhetorik mischt sich mit der Vorstellung, den Arbeitern in der Linken wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Ob das nur eine modische Kritik des »Klassismus« ist oder schon die wirkliche Bewegung, die den derzeitigen Zustand aufhebt, ist ungewiss. Diese Unschärfe ist Kalkül und war schon für »Aufstehen« charakteristisch.

Auf diese Unschärfe trifft man auch bei den »Bewegungslinken«. Sie haben sich als eine Bundesarbeitsgemeinschaft der Linkspartei im Dezember gegründet und wollen das Machtvakuum nutzen, das nach dem innerparteilichen Streit zwischen Sahra Wagenknecht und Katja Kipping entstanden ist. Denn trotz Kippings vorläufigem Siegs durch den gesundheitlich begründeten Rückzug Wagenknechts wirkt die Partei strategielos. Zuletzt haben die schlechten Landtagswahlergebnisse – mit Ausnahme des Wahlsiegs in Thüringen – gezeigt, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Die »Bewegungslinke« will die Partei von der Basis aus reformieren und damit verhindern, dass die Linkspartei entweder von »Unteilbar« verdrängt oder von den Grünen absorbiert wird.

Dabei versucht sie, das Beste aus beiden Ansätzen zu vereinen. Zum einen gibt sich die »Bewegungslinke« bedingungslos antirassistisch und distanziert sich so von den Populisten von »Aufstehen«. Zum anderen öffnet sie sich für Inter­essierte, die nicht in der Linkspartei engagiert sind, und bindet damit potentielle Wählerinnen aus dem Bündnis »Unteilbar« an sich. Schließlich versucht sie, das Konzept der neuen Klassenpolitik in die parlamentarische Praxis zu überführen und die gewerkschaftliche Organisierung in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten zu stellen.

Mit Hilfe eines »popularen Unten-Mitte-Bündnisses« will die »Bewegungslinke« mit dem »neoliberalen Kapita­lismus« brechen und eine »soziale und ökologische Transformation« einleiten. Das Ziel ist eine »sozialistische Demokratie«. Demokratie herrsche, wenn nicht mehr »die Eigentümer von Betrieben über das Schicksal ihrer Angestellten entscheiden«, nicht mehr »Think Tanks und Lobbygruppen an Stelle der Betroffenen die Politik bestimmen« und nicht »eine kleine Schicht von Besitzenden das ganze Land beherrscht«. Die schablonenhafte Vorstellung, der zufolge es lediglich eine böse Elite und eine gute Basis gibt, wird hier auf die gesamte Gesellschaft projiziert, deren Problem in der ungerechten Verteilung von Entscheidungsmacht und Reichtum ausgemacht wird.

Die parlamentarischen wie außerparlamentarischen Klassenpolitiker glauben, dass sowohl ihre innerlinke Sinnkrise als auch die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 durch neoliberale Politik ausgelöst worden seien, die über eine Reorganisierung und Stärkung der Arbeiterinteressen einfach ­behoben werden könnten.

Dabei übersehen sie zweierlei: zum einen, dass der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit sowie ein davon abgeleitetes ­Arbeiterinteresse, so stark es sich auch artikulieren mag, notwendig auf den kapitalistischen Rahmen bezogen bleiben müssen. Diesen kann das Arbeiterinteresse nicht von sich aus überwinden. Zum anderen übersehen sie, dass die neoliberale Politik der Deregulierung und Aufblähung des Finanzsektors ein gigantischer Krisenaufschub war, der die Fortsetzung der Kapitalakkumulation gewährleisten sollte.

Wenn die Krise also nicht politisch herbeigeführt wurde, sondern strukturelle ökonomische Ursachen hat, müsste eine antikapitalistische Linke auf der Höhe der Zeit ihre einerseits notwendig affirmative und andererseits schwächere Verhandlungsposition ­gegenüber dem Kapital reflektieren und einen anderen Ausgangspunkt der Kritik entwickeln als jenen der Arbeit. Der Populismus, der »Aufstehen« kennzeichnete und sich bei der »Bewegungslinken« andeutet, lenkt von dieser schmerzhaften ökonomischen Einsicht und der mühevollen Suche nach einem neuen Standpunkt ab.