Gespräch mit der Philosophin Nina Power über die Gleichgültigkeit kultureller Institutionen gegenüber der »cancel culture«

»Man kann sich die Mühe zu streiten nicht immer sparen«

Die britische Philosophin und Feministin Nina Power sieht sich seit Monaten vor allem in sozialen Medien durch sogenannte Netzaktivisten verunglimpft. Der »call-out culture«, die seit neuestem auf den Namen »cancel culture« hört, begegnet sie mit einem Projekt, bei dem sie Menschen mit anderen Ansichten zum Gespräch einlädt.
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Sie haben vor kurzer Zeit wegen eines Facebook-Postings, dessentwegen Sie öffentlich als »trans-exclusionary radical feminist« (Terf) bezeichnet wurden, ihre Publikationsmöglichkeit bei der Zeitschrift »The Wire« verloren. Was halten Sie sowohl als Betroffene als auch als Kulturtheoreti­kerin von der sogenannten »cancel culture«, deren Existenz ja auch oft bestritten wird?

Zunächst möchte ich festhalten, dass das alles ziemlich albern und nicht so wahnsinnig wichtig ist. Es ist nicht so, dass ich verbannt wäre, ich habe auch immer noch Arbeit. Außerdem handelt es sich bei den Leuten, die diese Social-Media-Dramen inszenieren, um eine sehr kleine, wenn auch engagierte Gruppe. Ich hoffe, dass das nicht wirklich ein weitreichendes Phänomen ist. Es gibt immer Antagonismen im sozialen Leben, und dieses Phänomen ist vielleicht ein Ausdruck der Unfähigkeit, Dissens auszuhalten.

Als Philosophin bin ich überzeugt davon, dass man mit Leuten reden kann, mit denen man nicht einer Meinung ist, und dass man eine abweichende Meinung begründen sollte. Ursprünglich hatte die No-Platform-Politik, zumindest in Großbritannien, ja das Ziel, Faschisten keine Bühne zu lassen, in einem ziemlich materiellen Sinne, etwa indem man sie daran hindert, zum Beispiel in einer Gegend mit vielen Immigranten zu hetzen. Darüber lässt sich selbstverständlich reden. So wie ich es aber sehe, haben einige Leute dieses Konzept, das in bestimmten Kontexten seinen Wert hatte, so verallgemeinert, dass es ad absurdum geführt wurde, dahingehend, dass man anonym bei seinem Arbeitgeber angeschwärzt wird wegen einer auf Facebook geposteten Ansicht. Ich selbst habe dann angeboten, dass die Leute sich mit mir treffen und mit mir reden können, wenn sie schon meinen, dass ich meine Arbeitsmöglichkeiten verlieren soll, weil ich bestimmte Ansichten über Sex und Gender artikuliert habe, und zwar in einer vernünftigen Form – wie viele andere übrigens auch. Gekommen ist selbstverständlich niemand. Die Londoner Linke kapriziert sich schon länger auf diese Praxis, und ich habe das auch schon vorher mit Unbehagen betrachtet.

Der US-amerikanische Künstler Mathieu Malouf, mit dem Sie in Berlin auch bereits über das ­Thema »cancel culture« diskutiert haben, hat einen kleinen Skandal verursacht, indem er eine grotesk überzeichnete antisemitische Skulptur in einer Galerie in Los Angeles ausgestellt hat. Es war auf den ersten Blick zwar durchaus zu erahnen, dass es sich dabei gewissermaßen um die ­Karikatur einer Karikatur handelte, und der Einfluss der Meme-Kultur war ebenfalls zu erkennen. Dennoch bleibt die Frage, was ­diese Frivolität leisten soll, außer Aufmerksamkeit in Form von ­Empörung zu generieren. In die von dieser Arbeit ausgegangenen Fehde in der Kunstwelt wurden auch Sie hineingezogen.

Da werden einige Fragen aufgeworfen, etwa: Wozu ist Kunst gut? Es sind doch gerade diese Grenzfälle, die produktive Diskussionen zur Folge haben. Und genau dem verweigern sich einige Leute in der Kunstwelt, die recht autoritär auftreten und einfach sagen: Das hat hier nichts verloren. Tatsächlich geht es aber in diesem konkreten Fall auch um die ­Rationalisierung eines ganz banalen Narzissmus, und das eskaliert dann recht schnell, da reicht schon ein falscher Like auf Twitter oder die Nähe zu verfemten Personen, um »cancelled« zu werden. Die Frage ist: Warum sind die Institutionen so gleichgültig gegenüber diesen Vorgängen? Warum sind sie so prinzipienlos und anscheinend nur an PR interessiert statt an schwierigen Debatten? Ich halte das für gefährlich. Zum Beispiel wollen einige Frauen in Großbritannien derzeit eine Debatte über die Änderungen im Rahmen des Gender Recognition Act führen – und sie werden nicht nur aus Debatten ausgeschlossen, sondern sogar tätlich angegriffen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der ökonomisch pre­kären Situation der Beteiligten in Institutionen wie der Universität oder der Kunstwelt und dem Phänomen des »cancelling«? Handelt es sich um eine brutale Form der Beseitigung von Konkurrenten?

Ich widerspreche da überhaupt nicht, die Ökonomisierung von allem und jedem ist sicherlich ein wichtiges Element. Ich hätte aber lieber eine psychoanalytische Diskussion darüber. Ich würde gerne wissen, was diese Leute antreibt. Wie kommen sie darauf zu meinen, einfach dekretieren zu können, worüber gesprochen werden kann und worüber nicht? Das Leben ist leider kompliziert, und man kann sich die Mühe zu streiten nicht immer sparen. Gerade haben wir in Großbritannien einen erdrutsch­artigen Sieg der Konservativen erlebt, und niemand in der Linken schien darauf intellektuell vorbereitet zu sein. Ich und ein paar andere ohne Scheuklappen haben es kommen sehen, kaum jemand war an Jeremy Corbyns Angeboten und Wahlversprechen interessiert. Die Linke hingegen war völlig eingenommen von ihren eigenen Sci-Fi-Phantasien über fliegende Autos oder was weiß ich.

Es gibt weite Teile im Norden Englands, wo die Leute jegliche Hoffnung verloren haben, die konnte man so nicht erreichen. Wir haben ein riesiges Problem mit einer korrekten Analyse der Lage. Deswegen muss man debattieren, nicht als Selbstzweck, sondern weil es ernste Probleme gibt. Aber um auf den Aspekt der Konkurrenz zurückzukommen: Es ist oft ganz einfach so, dass die Angreifer neidisch sind auf den Status der angegriffenen Person oder was immer sie sich einbilden. Ich kenne persönlich Fälle, in denen ein »call-out« nachweislich überhaupt kein anderes Motiv hatte, als den Job der beschuldigten Person übernehmen zu können. Bestimmte Spielarten des Feminismus haben sich übrigens auch keinen großen Gefallen getan damit, sich derart auf diesen Dualismus Unterdrücker–Opfer festzulegen. Man kann soziale Interaktionen nicht derart simplifizieren.

Sie wurden auch am Rande der Auseinandersetzung über eine umstrittene Ausstellung in London angegriffen, die die Alt-Right und Memes zum Thema hatte. Man könnte argumentieren, dass Aktivisten, die gegen solche Veranstaltungen protestieren, verstanden haben, dass Rechte durchaus die relative Freiheit etwa der Kunstwelt oder der Kulturindustrie taktisch zu nutzen gelernt ­haben, um unauffällig ihr Gift zu versprühen. Allerdings ist doch fraglich, ob das überhaupt so funktioniert. Die Aktivisten scheinen einfach diese Strategie der kulturellen Hegemonie für genauso wirksam zu halten wie ihre Kontrahenten: Man wähnt sich umgeben von Massen, die man ohne viel Aufwand einer Gehirnwäsche unterziehen kann ...

Ich denke in der Tat, dass da viel Paranoia und eine ganz schlechte Analyse von Kausalitäten dahinterstecken, so nach dem Motto: Man macht eine Ausstellung über Memes und das reiche schon aus, dass die Besucher mit falschen Ideen infiziert werden. Hier fehlt es an Verständnis von Symbolik. Ironie, Spiel und Ambiguität gibt es schon sehr lange. In meiner Sicht sind das Taktiken, die Autoritarismus gerade vermeiden, und sie eröffnen ein Feld, auf dem die Kunst in der Tat dunklere Gefühle oder seltsame Gedanken erforschen kann. Damit vermeidet man diese ­paranoide Spirale und traut dem Publikum auch zu, Ambiguität zu verstehen. Wenn man hingegen rumläuft und den Leuten erzählt, dass sie blöd seien, braucht man sich nicht wundern dass sie einem nicht zu­hören. Hillary Clinton hat einen großen Teil der US-Bevölkerung als ­deplorables (Bedauernswerte, Anm. d. Red.) bezeichnet und im gleichen Atemzug dafür geworben, dass man doch bitte sie wählen solle. Nun, die Leute haben schon Gründe für ihre Positionen. Die mögen durchaus falsch sein, aber wenn man sie von besseren überzeugen will, wird man sie begründen müssen. Sich in einer Blase einzuschließen und sich gegenseitig zu versichern, wie gut man ist, wird dazu wenig beitragen. Und das ist, was mit dieser Diskussion über Meme-Kultur passiert ist: Anstatt sich den Gegenstand mal anzusehen, ist man in Panik verfallen und hat alle als Faschisten bezeichnet. Ich denke, dass wir langsam eine Debatte darüber brauchen, was wir unter Faschismus verstehen. Es herrscht eine erdrückende postmoderne Stimmung, in der Wörter nichts mehr zu bedeuten scheinen.

Im Zusammenhang mit diesen ­Erlebnissen haben Sie im vergangenen Jahr das Projekt Amity/Animosity begonnen, das im Wesentlichen darin bestand, dass Sie Leute ermutigt haben, sich mit Ihnen zu treffen und zwanglos zu unterhalten. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Ich wurde von vielen Leuten angschrieben, die mich gerne verteidigt hätten, aber der Meinung waren, das nicht öffentlich tun zu können. Ich vermute, dass da sozialanthropologisch gerade etwas wirklich sehr Seltsames passiert, deswegen dachte ich, es wäre vielleicht eine gute Idee, zum klassischen philosophischen Dialog zurückzukehren – oder auch nur einfach zur Konversation. Also habe ich diesen öffentlichen Aufruf verbreitet, dass jeder, der mich mag oder auch nicht, sich mit mir treffen kann, um über alles Mögliche zu ­reden. Ich habe mich mit etwa 40 Leuten in drei verschiedenen Ländern getroffen, einige davon kannte ich ein wenig, andere wiederum gar nicht. Viele wollten über das Thema Freundschaft und das, was mit ihr in sozialen Medien passiert, sprechen, oder über den Verlust von Freundschaften, vor allem wegen Meinungsverschiedenheiten. Manche waren auch nur an Tratsch interessiert. Eine Erkenntnis war auf jeden Fall, dass gerade die Leute, die vom Online-Diskurs am meisten profitieren, auch diejenigen sind, die einer ambivalenten Diskussion, bei der man vielleicht nicht einer Meinung ist oder die eigene gar ändern könnte, aus dem Weg gehen. Was man oft hören kann, sind Aussagen wie: »Wir haben keine Zeit zu diskutieren! Menschen sterben gerade!« Ich halte die Betonung des Todes bei den Linken für fadenscheinig. Wie Spinoza sagte: »Der freie Mann denkt über nichts weniger nach als über den Tod.« Und ich will sagen: Ja, es gibt Zeit, um zu dis­kutieren. Und diejenigen, die das ständig online bestreiten, dementieren sich performativ selbst. Und was sie letztlich praktisch erreichen, ist ebenfalls mager: Ein paar Frauen am öffentlichen Reden zu hindern, das halten sie für Aktivismus? ­Besonders ehrenwert ist das nicht.