Auch Wrestler sollten sich gewerkschaftlich organisieren

Verletzt und ruiniert

Wrestler besitzen oft keinen ausreichenden Versicherungsschutz. Eine britische Initiative will für gewerkschaftliche Organisierung sorgen.
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Plötzlich flog Robert Dreissker kopfüber durch die Luft. »Wenn ich nichts gemacht hätte, wäre vermutlich nichts passiert. Aber ich stand halt kopfüber, und das war für mich mit meinen 130 Kilo eine neue Situation.« Instinktiv zog er im Flug die Arme nach oben, um seinen Kopf zu schützen, und landete mit dem kompletten Körpergewicht auf seinem Ellenbogen; der Oberarm sprang aus dem Gelenk. »Das waren die Schmerzen meines Lebens.«

Die Wrestlerin Kelly Klein veröffentlichte ihre Arbeitsverträge. Demnach tourte sie für weniger als 24 000 US-Dollar Jahresgehalt durch die USA.

Fast ein ganzes Jahr konnte der Wrestler nicht mehr in den Ring steigen. Dreisskers Glück: Obwohl er fast jedes Wochenende unter dem Kampfnamen Avalanche in den Ring stieg, hatte er immer noch eine Vollzeitstelle als Büroangestellter bei ­einer Kommunalverwaltung in Österreich. Dadurch war er krankenver­sichert und finanziell abgesichert. Die wenigsten europäischen Wrestler können allein vom Catchen leben, für die meisten ist es eine Mischung aus Hobby und Nebenjob.

Was Dreissker widerfuhr, gehört zum Berufsrisiko. Er wurde in einem German Suplex geworfen. Dieser hat seinen Namen nicht, weil er besonders fies wäre, sondern weil ein Wrestler ihn berühmt gemacht hat, dessen Karriere in der Weimarer ­Republik begonnen hatte: Karl Istaz, besser bekannt unter dem Ring­namen Karl Gotch, wird in Japan als »Gott des Wrestlings« verehrt. Sein Markenzeichen war der Wurf, bei dem ein Ringer seinen Gegner von hinten um die Hüfte greift, sich rücklings fallen lässt und den festgehaltenen Kontrahenten so über sich wirft, dass dieser Hilflos auf seinen Schultern landet. Wenn der Werfende ­seinen Kontrahenten weiter festhält, kann er dessen Schultern auf die Matte drücken und ihn so »pinnen«. Ein Pin ist die übliche Art, ein Wrestling-Match zu gewinnen: Wer seinen Gegner drei Sekunden lang mit beiden Schultern auf die Matte drücken kann, gilt als Sieger. Der German ­Suplex ist ein häufiges Manöver im Wrestling, endet in der Regel aber ohne bleibende Schäden – bei Dreiss­ker kam Pech dazu.

Beim Wrestling, manchmal etwas abfällig als Schaukampf bezeichnet, sind zwar die Ergebnisse und die groben Abläufe im Ring vorher abgesprochen, trotzdem sind Verletzungen nicht selten, und wenn etwas schiefläuft, können sie gravierend sein. Für große Bestürzung sorgte der Tod von César Cuauhtémoc González Barrón. Der mexikanische Wrestler mit dem Ringnamen Silver King starb im Mai 2019 während eines Matches vor laufenden Kameras an einem Herzinfarkt.

Dass Wrestler im Ring sterben, kommt äußerst selten vor, Zerrungen, Dehnungen, Prellungen und Brüche sind hingegen relativ häufig. Jeder große Wrestler, von Hulk Hogan über John Cena bis zum Undertaker, musste längere Auszeiten nehmen, um sich von Verletzungen im Ring zu kurieren. Diese Stars können sich die notwendigen Behandlungen, Pausen und Rekonvaleszenzen leisten. Doch manch anderen Wrestler haben die Kosten für seine Gesundheitsversorgung schon in den Ruin getrieben.

Neben den Spätfolgen von Stürzen sind Drogen ein großes Problem. Diese nehmen manche der Athleten nicht nur aus falsch verstandener Starattitüde, sondern um Schmerzen, psychischen Druck und andere Pro­bleme zu bekämpfen, die mit ­ihrer Tätigkeit einhergehen.

Der Marktführer World Wrestling Entertainment (WWE) hat eine seltsame Nische im US-amerikanischen Arbeitsrecht für sich gefunden, die auch andere Veranstalter nutzen. Die Wrestler der WWE gelten formal als independent contractors. Sie sind also keine Angestellten des Unternehmens. Zugleich verbietet die WWE ihren Wrestlern, bei anderen Promotionsfirmen aufzutreten. Damit ­haben die »WWE Superstars«, wie sie im offiziellen Firmenduktus heißen, zwar alle Nachteile, aber kaum die Vorteile einer regulären Festanstellung. Die WWE selbst vergleicht ­diese Situation gerne mit der von Schauspielern in Fernsehserien.

Im Jahr 2007 begann die WWE, die Behandlungs- und Entzugskosten für ihre Wrestler zu tragen. Der Druck auf die Firma war zu groß geworden, nachdem bekannt geworden war, dass der »WWE-Superstar« Chris Benoit erst seine Frau und seinen siebenjährigen Sohn und dann sich selbst getötet hatte. Bei den anschließenden Untersuchungen attestierten die Ärzte dem 40 Jahre alten Athleten das Gehirn eines 85jährigen Alzheimer-Patienten – eine Folge der zahllosen Gehirnerschütterungen, die Benoit im Ring jahrelang erlitten hatte.

»Wir setzen unsere Körper aufs Spiel«, sagt David Starr. Der US-amerikanische Indie-Wrestler heißt mit bürgerlichem Namen Max Barsky und zog 2018 nach Großbritannien. Das tat er nicht nur, weil dort eine riesige Indie-Wrestling-Szene existiert, sondern auch, weil es dort ein staatliches Gesundheitssystem gibt, den National Health Service (NHS). Starr lebt seit fünf Jahren allein vom Wrestling. Anders als Dreissker hat er also keinen anderen Arbeitsplatz, über den er versichert ist. Durch den Umzug nach Großbritannien erlangte er die Berechtigung, Leistungen über den NHS zu beziehen. Außerdem ist er der britischen Schauspielergewerkschaft Equity beigetreten und hat unter dem Titel »We the Independent« eine Initiative gegründet, die zum Ziel hat, mehr Wrestlerinnen und Wrestler in die Gewerkschaft zu holen. »Es gibt bestimmte Mindeststandards, die jeder Wrestler genießen sollte«, sagte er 2019 der Jungle World. »Dazu gehören ordentliche Unterkünfte, Transportkosten, Verpflegung und dass es bei Shows Sanitäter gibt, die im Notfall medizinische Versorgung bieten können.«

Neu ist diese Idee nicht. In den achtziger Jahren stand Jesse Ventura schon einmal kurz davor, innerhalb der WWF, wie die WWE damals noch hieß, Wrestler gewerkschaftlich zu organisieren. Der Legende nach war es Hulk Hogan persönlich, der Ven­tura bei ihrem gemeinsamen Boss Vince McMahon verpfiff und das Vorhaben damit beendete. Die erste Vereinbarung zwischen einer Gewerkschaft und einer Wrestling-Firma wurde erst 2019 getroffen: Die Gewerkschaft Equity schloss mit »EVE – Riot Grrrls of Wrestling« ein Abkommen ab. Die feministische Promo­tionsfirma wird zukünftig die Mitgliedsgebühren für ihre Wrestlerinnen in den Monaten tragen, in denen diese für EVE auftreten. So viel Arbeitsschutz ist in der Szene ­selten.

Für großes Aufsehen sorgte der Fall Kelly Klein. Die US-amerikanische Wrestlerin stand bei »Ring of Honor« unter Vertrag, einer der größten Wrestling-Promotionfirmen der Welt. Diese verließ sie im Streit, während sie dort noch Womens Champion war. Dann veröffentlichte sie ihre Arbeitsverträge, aus denen hervorging, dass sie ein Jahr lang quer durch die US getourt war – für ­weniger als 24 000 US-Dollar Jahresgehalt. Die medizinische Versorgung ihrer Schädel-Hirn-Traumata sei nur möglich, weil sie über die Krankenversicherung ihres Ehemannes mitversichert sei, sagte Klein. Mehrmals sei sie mit Verletzungen aus dem Ring gekommen, ohne dass medizinisches Personal bereit stand, um sie zu versorgen.

Während die meisten europäischen Wrestler ihre Tätigkeit nur als ­Nebenjob oder bezahltes Hobby betreiben, gibt es einen Wrestler, der ­unter dem ganz normalen Schutz des deutschen Arbeitsrechts steht: ­Robert Dreissker hat seine Büroanstellung mittlerweile aufgegeben. Ab Februar leitet er die WXW Wrestling Academy in Essen und gehört damit zu den ganz wenigen Wrestlern weltweit mit einer echten Festanstellung, Krankenversicherung und ­reguläres Monatsgehalt inklusive.