Antisemitismus und der britische EU-Austritt

Antisemitismus hat Konjunktur

Im vierten Jahr in Folge verzeichnet die jüdische Dokumentationsstelle Community Security Trust ein Rekordhoch antisemitischer Vorfälle in Großbritannien.

»2019 war erneut ein schwieriges Jahr für britische Jüdinnen und Juden und es ist nicht überraschend, dass die Zahl gemeldeter antisemitischer Vorfälle wieder einmal einen Höchststand erreicht hat.« Diese Bilanz zieht David Delew, Geschäftsführer des Community Security Trust (CST). In ihrem Anfang Februar veröffentlichten Jahresbericht verzeichnet die Organisation mit 1 805 Vorfällen das höchste Ergebnis seit Beginn der Aufzeichnung im Jahr 1984 – zum vierten Mal in Folge. Bei 85 Prozent der Vorfälle handelt es sich um verbale oder schriftliche Übergriffe, von denen annähernd die Hälfte online stattgefunden hat. Zudem kam es zu 158 tätlichen Angriffen, darunter ein Fall mit schweren bis lebensgefährlichen Verletzungen, sowie zu 88 Beschädigungen oder Schändungen von jüdischem Privat- beziehungsweise Gemeindeeigentum. Hierzu zählen vier ausgeführte oder versuchte Brandanschläge.

Es gibt Hinweise darauf, dass der Einflussgewinn rechts- sowie linkspopulistischer Kräfte im Verlauf des »Brexit«-Debakels zur Normalisierung antisemitischer Ressentiments beigetragen hat.

Aufschluss gibt der Bericht auch über die zugrundeliegende politische Motivation. Von den Fällen, die politisch zuordenbar wären, werden 224 der Labour-Partei, 126 dem rechtsextremen, 126 dem antizionistischen und 19 dem islamistischen Milieu zugeordnet. Es handelte sich in 505 Fällen um israelbezogenen, in 370 Fällen um verschwörungsideologischen und in 330 Fällen um NS-verherrlichenden Antisemitismus.

Was die Aussagekraft dieser Daten angeht, mahnt der Bericht aber auch zur Vorsicht. Grundsätzlich werden nur Vorfälle dokumentiert, die der Organisation direkt gemeldet wurden. Die politische Zuordnung könnte in Wirklichkeit entsprechend anders aussehen. Auch die Zahl antisemitischer Übergriffe dürfte deutlich höher sein. So wird im Bericht auf eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2018 verwiesen, derzufolge nur 21 Prozent der britischen Jüdinnen und Juden, die in den vergangenten fünf Jahren antisemitische Übergriffe erlitten hatten, sich bei der Polizei oder einer anderen Organisation meldeten.

Dennoch stellt der CST einige Vermutungen über mögliche politische Hintergründe an. Grundsätzlich wird auf eine wachsende Verrohung der politischen Auseinandersetzung seit dem Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU 2016 hingewiesen: »Womöglich hat die Art, wie das Referendum – und das endgültige Ergebnis – Fragen von Rassismus, Einwanderung, Nationalismus, Hasskriminalität sowie, was es heißt, britisch zu sein, verstärkt in den öffentlichen Diskurs eingebracht hat, zu einer Atmosphäre beigetragen, in der diejenigen, die bereits für den Hass auf das Anderssein anfällig gewesen waren, sich ermächtigt und bestärkt fühlten, diesen auszudrücken.« In der Tat gibt es Hinweise darauf, dass der Einflussgewinn rechts- sowie linkspopulistischer Kräfte im Verlauf des »Brexit«-Debakels zur Normalisierung antisemitischer Ressentiments im politischen Alltag beigetragen hat. Auf konserva­tiver Seite spielen vor allem antisemitische Gerüchte über den Einfluss des jüdischen Unternehmers George Soros oder der US-amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs auf den »Brexit«-Prozess und das politische Geschehen in Europa eine Rolle.

Neben zwei Parlamentskandidaten bedienten sich auch führende Politiker wie das Kabinettsmitglied Jacob Rees-Mogg oder die Regierungsberater Roger Scruton und Dominic Cummings dieser Verschwörungstheorien. Für Schlagzeilen sorgten zudem die Fälle der Parlamentskandidaten Ryan Houghton, Richard Short und Amjad Bashir, denen Holocaustleugnung beziehungsweise israelbezogener Antisemitismus nachgewiesen wurde.

Deutlicher größer schätzt der CST jedoch das Antisemitismusproblem der Labour-Partei ein. Dies wird unter anderem damit begründet, dass die Gesamtzahl der dokumentierten Fälle mit dem Verlauf der öffentlichen Debatte um den Labour-Antisemitismus korreliert. Am höchsten waren die Zahlen, so der Bericht, in jenen Monaten, in denen die Kritik der Labour-Partei besonders medienwirksam war.

So etwa im Februar, als acht Unterhaus-Abgeordnete die Partei aus Protest gegen den virulenten Antisemitismus und die Linie der Parteiführung in der »Brexit«-Frage verließen. Angeführt wurde die Gruppe von Luciana Berger, die schon länger von antisemitischen Hasskommentaren bis hin zu Morddrohungen gegen sie berichtet hatte. Kurz darauf entschuldigten sich annähernd 1 000 Unterstützer des Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn in einem offenen Brief bei der jüdischen Gemeinde für das bisherige Versagen der Labour-Partei. Ein weiterer Gipfel anti­semitischer Vorfälle wurde im Dezember erreicht, als der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis, die Wochenzeitung Jewish Chronicle sowie das Jewish Labour Movement, die offizielle Vertretung jüdischer Labour-Mitglieder, sich offen gegen die Wahl der Labour-Partei aussprachen.

Aber auch das restliche Jahr war von einer Vielzahl an Skandalen geprägt. Die Partei selbst hat von 773 gemeldeten Antisemitismusfällen im Jahr 2019 berichtet, was bislang zu 296 Suspendierungen und 45 Ausschlüssen geführt hat. Hierunter fallen auch verschiedene Fälle von prominenten Parteimitgliedern, wie etwa die Parlamentsabgeordnete Ruth George und das Parteivorstandsmitglied Peter Willsman, die behaupteten, Kritikerinnen und Kritiker des Labour-Antisemitismus seien von Israel finanziert. Dazu zählt auch des Schattenministers für Immigration, Afzal Khan, der einen Facebook-Beitrag mit antisemitischen Verschwörungstheorien teilte. Auch das parteiinterne Disziplinar- und Ausschlussverfahren wird seit Monaten kritisiert. Medienberichten zufolge hat das Corbyn-Büro in den vergangenen Jahren wiederholt versucht, die Strafmaßnahmen bei antisemitischen Vorfällen abzumildern oder gar zu verhindern. Bereits im Mai 2019 wurde die Tragweite der Affäre deutlich, als die Equality and Human Rights Commission (EHRC), die offizielle Antidiskriminierungsstelle Großbritanniens, eine offizielle Untersuchung der Labour-Partei ankündigte. Die einzige Partei, die bisher als Ganzes von der EHRC untersucht wurde, ist die rechtsextreme British National Party (BNP), die sich im Jahr 2010 weigerte, nichtweiße Mitglieder aufzunehmen.

Zumindest konnte im Rahmen der anhaltenden öffentlichen Kontroverse über den Labour-Antisemitismus die Einhaltung bestimmter Mindeststandards gestärkt werden. Ende Januar unterzeichneten 641 der 650 Abgeordneten im britischen Unterhaus die volle Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Einzig zwei Abgeordnete der Labour-Partei und alle sieben Abgeordneten der irisch-nationalistischen Sinn Féin sind dem bislang nicht nachgekommen.