Die Klasse ist immer umkämpft
Wie kann sich die Linke im neuen Jahrzehnt orientieren? Soll sie sich auf Sozialpolitik in den Parlamenten oder auf neue soziale Bewegungen mit Massenprotesten konzentrieren? Johannes Simon kritisierte den populistischen Versuch der Sammlungsbewegung »Aufstehen« (»Jungle World« 2/2020), Martin Brandt das Konzept der »neuen Klassenpolitik« (3/2020). Lothar Galow-Bergemann richtet den Blick (4/2020) zurück auf die konkrete Frage der Arbeitszeitverkürzung. Christoph Wimmer plädierte für die Selbstorganisierung im Klassenkampf (5/2020).Gaston Kirsche misstraut den Deutschen (6/2020), selbst wenn sie Arbeiter sind. Ernst Lohoff kritisiert die Verwässerung des Klassenbegriffs durch die »neue Klassenpolitik« (7/2020).
In der bürgerlichen Gesellschaft stehen sich zwei Klassen gegenüber. Wer zu welcher gehört, bestimmt sich durch die Stellung im Arbeitsprozess und durch die exklusive Verfügungsmacht über Produktionsmittel. Laut Deutscher Bundesbank besaßen im Jahr 2017 zehn Prozent der privaten Haushalte in Deutschland Privateigentum an Produktionsmitteln: Betriebsvermögen. Dieses sei, ebenso wie Aktienvermögen, bei den Haushalten »im oberen Teil der Verteilung konzentriert«. Dem gegenüber steht jene entsprechend deutlich größere Gruppe, die keine Verfügungsgewalt über die Produktionmittel hat. Deren Angehörige sind daher gezwungen, das Einzige zu verkaufen, was sie nur haben: ihre Arbeitskraft. Die abhängige Klasse ist daher immer da, solange kapitalistische Produktionsweise herrscht, nur: Mal geht sie auf die Straße, mal eben nicht.
Dieses Verständnis von Klasse bewegt sich auf einem hohen Abstraktionsniveau. Es ist damit noch nichts darüber gesagt, wie sich die Klasse konkret zusammensetzt, das heißt, unter welchen Bedingungen die Leute arbeiten müssen, zu welchem Lohn, mit welchen Nach- oder Vorteilen in der Konkurrenz, auf welcher Stufe der Karriereleiter und so weiter. Viele werden immer mal wieder aufs Pflaster geworfen, andere kriegen nie einen Job. Ein anderer Teil verbleibt in unbezahlten Tätigkeiten, oft patriarchalen Abhängigkeiten. Diese sozialen Ausdifferenzierungen sind stets im Wandel, die individuellen Lebensläufe dem krisenhaften Auf und Ab kapitalistischer Marktwirtschaft unterworfen.
Das große Glück derjenigen, denen das Betriebsvermögen gehört, ist es nun, dass die Ware Arbeitskraft, die sie kaufen, etwas Einzigartiges beherrscht: Sie kann mehr produzieren, als sie für ihren eigenen Erhalt benötigt. Für diese Fähigkeit hat das Unternehmen bezahlt, das Ergebnis gehört daher ihm. Dem steht nun die Verkäuferin der Ware Arbeitskraft gegenüber, deren Wert dadurch bestimmt ist, was sie zum Leben braucht. Das kann für die Einzelnen je nach Stand der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Bewertung der Tätigkeiten viel oder wenig sein.
Dem Recht der Beschäftigten, den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft erhalten zu wollen, steht nun das Recht des Unternehmens, aus der Ware möglichst viel rauszuholen, gleichberechtigt gegenüber. Bezogen auf den Streit um die Verlängerung des Arbeitstags schreibt Marx: »Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt.« Aus der Ökonomie ergibt sich nichts, was diese beiden sich entgegenstehenden Rechte austarieren würde. Marx schlußfolgert: »Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.« Das heißt: Dieser Gegensatz ist immerzu gesellschaftlich umkämpft, die jeweiligen Kräfteverhältnisse entscheidend für den Ausgang des Kampfes – Gesetzgebung, Gewerkschaften, individuelle Strategien, Streik.
Klassenkampf stellt sich so als eine höchst asymmetrische Auseinandersetzung zwischen den Klassen dar, resultierend aus den Gesetzen der Warenproduktion, ganz im Rahmen der bürgerlichen Rechtsverhältnisse. Klassenpolitik, ob nun im Parlament oder außerhalb, ist somit in der Regel auf die Verbesserung der Lage der arbeitenden Menschen ausgerichtet, auf die Stärkung ihrer Rechte, auf das Mobilisieren von Widerstand gegen Zumutungen des Arbeitsmarkts. Sie steht nicht per se im Gegensatz zu einer kapitalistisch organisierten Ökonomie, sondern ist vielmehr Ausdruck ihrer Widersprüche und gegensätzlichen Interessen.
All dies – so viel soll gesagt sein – spricht nicht dagegen, die Kämpfe der Arbeitenden um mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen et cetera gutzuheißen. »Klassenpolitik« ist wichtig, die Mobilisierungen zur Gegenwehr und zur Unterstützung von Kämpfen sind unabdingbar. Es geht um Zeitwohlstand, um einen größeren Anteil am Reichtum, den keine andere als die gesellschaftliche Gesamtarbeiterin geschaffen hat.
Nun ist die abhängige Klasse in der Sicht linker Weltanschauung immer schon Bezugspunkt und Hoffnungsträger für die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise gewesen. Ihre strukturelle Bestimmung und ihr historisch-konkretes Auftreten werden dabei oft in eins gesetzt: Wenn gestreikt wird, ist die Klasse zurück, verhält sie sich still, ist sie weg. Aber nur weil weniger rote Fahnen schwenkende Fabrikarbeiter zu sehen sind und Beschäftigte sich nicht organisieren, heißt das nicht, dass die Klasse verschwunden ist. Ob nun umgekehrt ein Streik Ausdruck von Klassenbewusstsein ist oder ob diese Annahme eher einer romantisierenden Projektion entspringt, sei dahingestellt. Einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen sozialer Stellung und Bewusstsein gibt es nicht.
Natürlich, es ist verführerisch, für die Veränderung der Verhältnisse eine Gruppe bestimmen zu können, von der man denkt, sie könne das Geschäft übernehmen – man muss sie nur gewinnen, ihr klarmachen, welche historische Rolle ihr zugedacht ist. Aber was, wenn sie nicht will?
Die gegensätzlichen Interessen von Kapital und Arbeit berücksichtigen jedoch ein beiden gemeinsames Interesse, nämlich das an einer erfolgreichen Vermehrung des Kapitals: Die einen verfolgen dieses Ziel, weil sie sich den gesellschaftlich produzierten Reichtum privat aneignen können, die anderen sind daran interessiert, weil der Lohn ihre einzige Existenzgrundlage ist. Aus dieser verwickelten Interessenlage resultiert nun alles Mögliche, nur nicht ein bestimmtes Bewusstsein. Reaktionäre und ausgrenzende Tendenzen mancher Teile der Klasse oder milder, die Affirmation der Verhältnisse, in die sich die meisten eingepasst haben, als wär es ihre zweite Haut, sind beredtes Zeugnis.
Die Abhängigkeit des überwiegenden Teils der Menschen von jenen, die das Betriebsvermögen besitzen, wird meist als gegeben, quasi naturnotwendig betrachtet. Dass die Arbeitenden aber, ob sie nun viel oder wenig verdienen, vom Zugang zu Grund und Boden, Produktionsmitteln, Rohstoffen, Naturbedingungen et cetera ausgeschlossen sind und nur über den Verkauf ihrer Arbeitskraft an die von ihnen selbst produzierten Lebensmittel kommen, ist historisch ein Novum. Im Rahmen einer über Jahrhunderte andauernden sozialen Enteignung der Menschen, ihrer Vertreibung von Grund und Boden, bildete sich erst der »doppelt freie Lohnarbeiter« heraus, frei von Produktionsmitteln und frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Seither sind Boden und Arbeitskraft eine Ware und seither – Resultat dieser Entwicklung – ist das Subjekt der Geschichte ein uns äußerlich Erscheinendes: Es ist die Verwertung des Werts, mit anderen Worten: Produktionsmittel und Natur werden zur Maximierung des Profits eingesetzt, ihre Privateigentümer bestimmen nach diesem Kriterium, was, wie viel, wo, wann und von wem unter welchen Bedingungen produziert wird, mit den bekannten Auswirkungen auf Mensch und Natur.
Nur weil weniger rote Fahnen schwenkende Fabrikarbeiter zu sehen sind und Beschäftigte sich nicht organisieren, heißt das nicht, dass die Klasse verschwunden ist.
Denkt man sich eine Gesellschaft, in der es keine Klassen mehr gäbe, in der alle Menschen gleichermaßen frei wären vom Zwang zum Verkauf ihrer Arbeitskraft, in der das Bedürfnis der vielen und nicht mehr die Profitmaximierung durch einige wenige die gesellschaftliche Produktion steuerte, so bräuchte es dazu Einiges an Voraussetzungen: die Wiederaneignung der Betriebe, der Anlagen, der Natur, des Grund und Bodens et cetera durch jene, die tatsächlich unmittelbar damit arbeiten. Produktionsmittel, Natur und Arbeitskraft würden dann nicht mehr als Ware existieren, die gesellschaftlichen Bedürfnisse wären nicht mehr über den spezifisch kapitalistischen Markt vermittelt, der ausschließlich die zahlungsfähige Nachfrage bedient und damit das Klassenverhältnis in all seinen konkreten, sich ständig ändernden Ausdifferenzierungen beständig erneuert.
Dass Klassenkämpfe nun gänzlich ungeeignet sind, zu einer emanzipatorischen Gesellschaft zu gelangen, ist allerdings genauso wenig kategorisch zu schlussfolgern, denn, freilich: Es sind die vom Lohn Abhängigen, die am Fließband stehen, die Roboter überwachen, E-Autos montieren, Essen zubereiten und Software-Codes programmieren. Sie sind es, die neue Formen der lokal und global vernetzten Arbeitsorganisation testen, sie sind es auch, die die Produktivkräfte unter dem Kommando des Kapitals überhaupt erst auf den heutigen Stand gebracht haben. Insofern hätten sie aufgrund ihrer unmittelbaren Stellung im Produktionsprozess das Potential, »revolutionäres Subjekt« zu sein, indem sie sich die Verfügungsgewalt über die Dinge, mit denen sie arbeiten, aneignen und kooperieren, statt zu konkurrieren.
Ob dieses Potential zur Wirklichkeit drängt und wer Träger einer solchen Bewegung sein würde, in welchen angesichts des Klimawandels vielleicht überraschenden Bündnissen und Konstellationen, das wird man später in den Geschichtsbüchern lesen können. Leider hält die Geschichte immer auch andere Optionen bereit.