Der rassistische Wahn des ­Attentäters von Hanau und seine Bezugspunkte

Endkampf gegen Shishabars

Der mutmaßlichen Attentäter von Hanau schrieb von dem Wunsch, Bevölkerungsgruppen auszurotten, die er für unproduktiv und schädlich hielt. Eine pathische Projektion, ihre Folgen und Ursprünge.

Neun Menschen wurden aus rassistischen Motiven erschossen. Außerdem eine weitere Frau aus bislang ungeklärtem Motiv. Der Täter ist tot, erschoss sich offenbar mit der eigenen Waffe. Manche Parallelen zwischen dem Massaker von Hanau und der Mordserie des rechtsterroristischen NSU sind geradezu gespenstisch. Nur wurden in Hanau die mutmaßlich rassistischen Morde innerhalb von Minuten in einer Shishabar und einem Kiosk verübt. Der NSU mordete sechs Jahre lang unbeheligt.

Die deutschen Medien spielten bekanntlich bei der jahrelangen Nichtaufklärung der NSU-Mordserie eine sehr unrühmliche Rolle. Das Wort »Dönermord« fand man offenbar zuallererst in der Nürnberger Zeitung, daraus wurden später die »Dönermorde«, wie die renommierten bürgerlichen Qualitätszeitungen FAZ und NZZ die als »Česká-Mordserie« bekannten Verbrechen auch bezeichneten, bevor sie dem NSU zugeordnet wurden. Dass dies erst nach dessen Selbstenttarnung geschah, spiegelt sich nicht zuletzt in solchen Wortschöpfungen. Etwas anderes als »Milieutaten« konnte es, durfte es nicht geben.

Zumindest die Grausamkeit einer jahrelangen Erniedrigung wird den Angehörigen der Opfer von Hanau erspart bleiben.

Es vergingen fünf Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel, bis ein Bekennervideo des NSU an die Öffentlichkeit gelangte. Dieser Umstand verlieh den Morden noch eine zusätzliche perfide Qualität: Die Polizei ermittelte vor allem gegen die Angehörigen der Ermordeten und ihr Umfeld. Man unterstellte Beziehungstaten oder Verwicklungen in Drogengeschäfte. Gerüchte zerstörten den Ruf der Familien der Opfer, psychische Erkrankungen und finanzieller Ruin waren oft die Folge. Ähnlich erging es den Betroffenen des Nagelbombenattentats des NSU in der Kölner Keupstraße.

Zumindest die Grausamkeit einer jahrelangen Erniedrigung wird den Angehörigen der Opfer von Hanau erspart bleiben. Ein sehr schwacher Trost für Menschen, denen die Mordtat ihre Liebsten jäh entrissen hat. Ein Video zeigt die Mutter von Ferhat Unvar, einem der Mordopfer von Hanau. Er habe doch niemand etwas getan, hört man die Mutter unter Tränen und offensichtich größtem Schmerz schreien. Er habe doch gearbeitet.

Unvar hatte, berichtet seine Familie, gerade seine Lehre zum Heizungs- und Gasinstallateur abgeschlossen und war dabei gewesen, seine eigene Firma zu gründen. Er wurde 22 Jahre alt.
Sämtliche Mordopfer von Hanau haben gearbeitet. Die zweifache Mutter Mercedes Kierpacz arbeitete in der Arena Bar, einem Kiosk mit angeschlossener Shishabar, einem der Tatorte. Sie gehörte der Minderheit der Roma an und wurde 35 Jahre alt.

Shishabars genießen keinen besonders guten Ruf in Deutschland. Im vergangenen Jahr konnte man viel in deutschen Medien über sie lesen, wenig davon klang positiv. Wegen zahlreicher Polizeirazzien erschienen sie als Horte des Verbrechens, des Glücksspiels, des Drogenhandels und als Treffpunkt kriminell-mafiöser Clans. Tatsächlich lieferten die Durchsuchungen vergleichsweise magere Ergenisse, oft nur etwas unversteuerten Tabak. Vergleichbar der Berichterstattung über die vermeintlichen »Dönermorde« wurde die sogenannte Clankriminalität zum Synonym für das Treiben krimineller Südländer, die keiner geregelten Arbeit nachgehen und sich dem unproduktiven Müßiggang hingeben.

Es ist seit den Morden von Hanau viel darüber geschrieben und diskutiert worden, welcher Religion oder Ethnie die Opfer des Anschlags angehörten und welche Staatsangehörigkeit sie hatten. Der Streit darüber, wer sie in welcher Talkshow und auf welcher Bühne repräsentieren sollte, wurde vor allem in den sozialen Medien geführt und war alles andere als angenehm. Wenn man hingegen die Biographien von Kierpacz, Unvar, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu betrachtet, verbindet die Ermordeten neben der Zuschreibung als »Migranten« vor allem eines: Sie gehören zur westdeutschen, migrantisch geprägten werktätigen Klasse. Sie arbeiteten als Kellner, in Kurierfirmen, als Kammerjäger, machten Ausbildungen zu Maurern und Maschinenführern. Sie gehörten zu jenen Menschen, die meist ihr Leben lang arbeiten, ohne dass ihnen viel vom gesellschaftlichen Reichtum zukäme.

Wie erneut eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 2019 feststellte, ist in Deutschland die Vermögensverteilung im internationalen Vergleich äußerst ungleich. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen demnach mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens (56 Prozent). Die ärmere Hälfte hat dagegen nur einen Anteil von 1,3 Prozent. Diese Menschen als unproduktive Müßiggänger darzustellen, ist nicht nur eine Frechheit – das bisschen unproduktiver Müßiggang an einem Ort, an dem ihnen nicht wie oft in deutschen Diskotheken wegen der falschen Hautfarbe der Zutritt verwehrt wird, wäre ihnen von Herzen zu gönnen.

Shishabars, Kioske und Dönerimbisse sind vielmehr in Deutschland soziale Institutionen eines proletarischen Kosmopolitanismus. Hier finden Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe, sozialen Herkunft und Einkommmensverhältnisse zusammen. Tatsächlich brachte es Focus Online fertig, in einer der frühesten Meldungen über das Massaker von »Shishamorden« zu schreiben, eine Headline, die aufgrund der Empörung in den sozialen Medien schnell wieder verschwand. Das Morden mag heute schneller verlaufen, als zur Zeit des NSU, aber auch das Bewusstsein für Rassismus hat sich in Deutschland verändert.

Welche Rolle indessen mediale Berichterstattung auch für das Zustandekommen des Attentats hatte, darüber lässt sich manches aus dem oft als »irre« oder »wirr« bezeichneten Manifest rekonstruieren, das der mutmaßliche Attentäter hinterließ. Darin wird in zumeist sehr klaren und auch orthographisch korrekten Sätzen ein Weltbild und die Art, wie der Autor angeblich dazu gekommen sei, dargelegt. Man erfährt, dass »die Existenz gewisser Volksgruppen an sich ein grundsätzlicher Fehler« sei. Von der Notwendigkeit einer »Grobsäuberung« und einer anschließenden »Feinsäuberung«, die auch »das eigene Volk« betreffen müsse ist die Rede, da »nicht jeder, der heute einen deutschen Pass besitzt, reinrassig und wertvoll« sei. »Eine Halbierung der Bevölkerungszahl« wird empfohlen. Bestimmte Menschen hätten sich »in ihrer Historie nicht als leistungsfähig erwiesen«, an anderer Stelle heißt es, bestimmte »Rassen und Kulturen« hätten »nicht nur keinen Beitrag geleistet«, sondern seien »destruktiv – vor allem der Islam«.

Einiges in dem Manifest erinnert an Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen« und andere Arbeiten des 2008 verstorbenen US-amerikanischen Politologen, anderes an Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab«. Die von Björn Höcke (AfD) angekündigte »wohltemperierte Grausamkeit« steigert sich hier zu einer globalen Genozidphantasie.
Neben Rassismus durchzieht den Text vor allem eine Art Leistungsideologie. Diese findet sich nicht allein bei extrem rechten und rassistischen Autoren, sie ist in Deutschland viel weiter verbreitet. Davon zeugt auch die Klage der Mutter von Ferhat Unvar. Es verwundert ferner nicht, dass der Autor seine Vorliebe für großbusige blonde Frauen bekennt und von seiner Bankkaufmannslehre und dem BWL-Studium schreibt. Unbequeme Details können das Selbstbild des Herrenmenschen nicht trüben. Der mutmaßliche Täter war zuletzt arbeitslos und lebte bei seinen Eltern, wähnte sich aber unverdrossen in einem heroischen Endkampf gegen unproduktive »Rassen und Kulturen«.

Es finden sich dem Manifest kaum Quellen für die darin geäußerten Ideen. Der Autor beschreibt sich stolz als deren eigentlicher Urheber. Weder Höcke noch Sarrazin oder Huntington erfahren in dem Text die Würdigung, die ihnen mutmaßlich gebührt. Lediglich eine schriftliche Quelle findet Eingang – er erwähnt Zeitungsberichte, in denen es beispielsweise um »Schlägereien von fünf Ausländern gegen einen Deutschen« geht. Eigene schlechte Erfahrungen mit »bestimmten Volksgruppen, nämlich Türken, Marokkaner, Libanesen, Kurden etc.« nennt der Autor sogar »harmlos«, Streitigkeiten und Pöbeleien auf dem Schulweg oder in der Diskothek. Schlimmeres kennt er, wie könnte es anders sein, vor allem aus Erzählungen und eben Zeitungen. Dann habe er während seiner Ausbildungszeit einen Banküberfall erlebt – wobei der Text interessanterweise ausgerechnet an dieser Stelle auf eine ethnische Zuschreibung des oder der Täter verzichtet. Als Offenbarung beschreibt der Autor das anschließende Sichten der »Karteikarten von mehreren hundert potentiellen Verdächtigen« bei der Polizeidienststelle als Zeuge. Diese hätten »zu 90 Prozent aus Nichtdeutschen« bestanden. Darüber, wie solche Karteien zustande kommen, ob dabei vielleicht bestimmte stereotype Vorstellungen deutscher Polizisten eine Rolle spielen könnten, machte sich der Autor offenbar keine Gedanken. Warum auch? Das würden wohl nach wie vor die Wenigsten in Deutschland tun.

»Mein Sohn sollte nicht umsonst gestorben sein«, sagt am Ende des kurzen Videos die Mutter von Ferhat Unvar. Rassismus müsse bekämpft werden, fordert sie, nun deutlich gefasster als zuvor. Diesen Wunsch sollte man ihr auch erfüllen.