Die Gespenster des Neoliberalismus bei Mark Fishers »k-punk«

Zukunft ohne Zukunft

Mark Fisher konnte nur noch die Einleitung zum geplanten Buch »Acid Communism« vollenden. Sein Vorhaben war, die mögliche Zukunft, die der Neoliberalismus in den späten Siebzigern verbaut hatte, wieder vorstellbar zu machen. Erster Teil einer Serie zur deutschen Veröffentlichung von »k-punk«.
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Nein, Mark Fisher schätzte Adorno nicht besonders, wenn er ihn denn überhaupt mal erwähnte. Fisher, der die im postmodernen Kapitalismus zur Kollektiverkrankung gewordene Depression, der er selbst im Januar 2017 erlag, als Konsequenz der Privatisierung von Stress (sprich: von Lebensrisiken und Arbeitskraftverwaltung) zu deuten verstand, begründete seine Aversion ausgerechnet mit einem alten Klischee des ML-Geschichtsoptimismus: Adorno lade lediglich dazu ein, »die Wunden des beschädigten Lebens unter der Herrschaft des Kapitals in nicht enden wollender Weise zu begutachten«, monierte Fisher in der posthum veröffentlichten Einleitung seines geplanten Buchs »Acid Communism«.

Doch auch Fisher selbst geht es um die gesellschaftliche Pathologie einer neuartigen Form kapitaler Herrschaft, der es zu gelingen scheint, alle vergangene Zeit und alle verfehlte Zukunft zu nivellieren in einer ebenso end- wie auswegslosen Gegenwart. Und so erweisen die feinfühlig-genervten Essays des Engländers wider die popkulturellen und sozialen Zumutungen des von ihm so treffend genannten »kapitalistischen Realismus« dann doch Adorno Reverenz, ohne es zu wissen oder gar zu wollen. Denn kaum ein Autor der vergangenen Jahrzehnte, gerade wenn er der Branche Literatur- und Kulturwissenschaft zugerechnet wird, hat so sehr wie Fisher der von Adorno in der Vorrede zur »Negativen Dialektik« festgehaltenen Bedingung für Wahrhaftigkeit genügt: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.«

Fisher macht die Realität als Produkt eines epochalen Niedergangs kenntlich; er zeigt die Installation des kapitalistischen Realismus ab den späten siebziger Jahren als Versuch, in Zukunft jede Form von Zukunft zu verhindern, die diesen Namen verdient.

Diesen gesellschaftlich objektiven Charakter von Leid herauszustellen, wurde Mark Fisher nicht müde: gerade da, wo alle kurrente Ideologie darauf drängt, Schuld und Verantwortung fürs Pathologische dem Individuum zuzuschieben, seiner Unzulänglichkeit, seinem Versagen, seinem Fehlverhalten, und gerade da, wo diese erzliberale Ansicht auch noch besonders links und fortschrittlich daherkommt. In konzentrierter Form lässt sich das jetzt auch auf Deutsch nachlesen, in den unter dem Titel »k-punk« (so hieß Fishers Blog) veröffentlichten Schriften, die den mit Bedacht ausgewählten Großteil der Texte aus der gleichnamigen englischen Originalausgabe von 2018 enthalten. Insbesondere die im vierten Teil (»Politische Schriften«) beziehungsweise fünften Teil (»Reflexionen«) des Sammelbandes zusammengefassten Essays und Polemiken mit bezeichnenden Titeln wie »Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig« oder »Raus aus dem Vampirschloss« benennen rücksichtslos die in nahezu anthropologischer Dimension wirksamen Effekte allseitiger digitaler Kommunikation unter Bedingungen ebenso allseitiger dysfunktionaler Konkurrenz.

Wiewohl man beim »Gedanken an die alte Langeweile … die trostlosen Sonntage, die nächtlichen Stunden, nachdem im Fernsehen nichts mehr kam … fast nostalgisch werden könnte«, schreibt Fisher etwa, reichen die Konsequenzen dessen, dass der Kapitalismus die Langeweile abgeschafft hat, weit über die Tatsache hinaus, dass »das Gehirn im 24/7-Leben des kapitalistischen Cyberspace nicht mehr faulenzen darf«. Denn »die zeitgenössische Form des Kapitalismus hat zwar die Langeweile abgeschafft, nicht jedoch die Gelangweilten. Im Gegenteil – man könnte sagen, dass das Langweilige omnipräsent ist.« Doch es ist nahezu unmöglich, überhaupt zu bemerken, gelangweilt zu sein. Der Überdruss wird sich seiner nicht mehr bewusst, er ist nicht mehr grau, sondern bunt, er ist nicht mehr passiv, sondern von angedrehter Aktivität (und sei es nur mit Pupillen und Daumen auf dem Bildschirm).

In gewisser Weise hat die praktizierte Ideologie des Neoliberalismus den Traum von der Beendigung der »Fabrikgesellschaft« und der Möglichkeit eines vom Rhythmus der Bänder und Stechuhren befreiten Lebens in gänzlich pervertierter Form für sich genutzt und auf ihre Weise erfüllt: Durch die Abschaffung des Gelangweilt-sein-Dürfens hat sie zwar nicht die Entfremdung – Entfremdung im Sinne, dass man gelebt wird, statt zu leben – aufgehoben, dafür aber die Möglichkeit, sich dessen bewusst zu werden.

Denkt man an diesem Punkt weiter, beispielsweise an Schopenhauers Satz, wonach es »die Langeweile macht, dass Wesen, welche einander so wenig lieben, wie die Menschen, doch so sehr einander suchen, und (sie) dadurch die Quelle der Geselligkeit wird« – dann liegt nahe, zu vermuten, dass die Medien der dauernden Zerstreuung und des ständig präsenten Mitmachens psychotechnisch geradezu prädestiniert sind, ihre Benutzer (vielleicht sogar besser: die von ihnen Benutzten) zu enthemmen, ihnen sozusagen den letzten Funken Liebe auszutreiben. Fisher vergleicht denn auch jene, die allgemein gerne als »Netzaktivisten« bezeichnet werden, mit den erbarmungslosen Bewohnern eines »Vampirschlosses«: »Im Vampirschloss ist man darauf spezialisiert, Schuld zu erzeugen. Man wird angetrieben von dem priesterlichen Wunsch danach, zu exkommunizieren und zu verurteilen, dem akademisch-pedantischen Begehren, der Erste zu sein, der einen Fehler entdeckt, und der Hipster-Lust dazuzugehören. Wenn man das Vampirschloss angreift, besteht die Gefahr, dass es so aussieht – und man wird alles dafür tun, damit dieser Eindruck entsteht –, als ob man auch den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Heterosexismus attackiert. Das Vampirschloss wurde in dem Moment geboren, als der Kampf darum, nicht durch Identitätskategorien definiert zu werden, in die Suche nach ›Identitäten‹ umschlug.«

Ebenso konsequent unbotmäßig fällt auch Fishers Analyse des politischen Erfolgs der rechten »Punk-Kandidaten« der vergangenen Jahre aus: »Die Stimmung, die Trump und der Brexit eingefangen haben, ist die Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen Realismus. Es ist jedoch nicht der Kapitalismus, der in diesen unfertigen Revolten abgelehnt wird, sondern der Realismus.« Und weiter: »Nun, nach dem Brexit und nach Trump kann man mit Sicherheit sagen: Die langweilige Dystopie ist vorbei. Wir befinden uns nun in einer vollkommen anderen Dystopie.«

Nichts wäre nun verkehrter, als anzunehmen, Mark Fisher sei einer von jenen gewesen, die die Provokation um der schieren Provokation willen suchen. Seine Kritik besitzt ein starkes normatives Element, setzt einen Maßstab, an dem das Kritisierte versagt: Fisher macht die herrschende Realität als Produkt eines epochalen Niedergangs kenntlich; er zeigt die Installation des kapitalistischen Realismus ab den späten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als (leider bislang überaus erfolgreichen) Versuch, in Zukunft jede Form von Zukunft zu verhindern, die diesen Namen verdient, also das, was in den sechziger und siebziger Jahren dem Akkumulationsregime drohte: dass nämlich die Utopie, und zwar eine sehr konkrete Utopie im Bloch’schen Sinne, die Massen ergreifen könnte.

Dieser konkreten Utopie, an der Fisher, Jahrgang 1968, nicht mehr teilhatte, verleiht er den perfekt passenden Namen »Acid Communism«. Sein Gespür für das, was heute fehlt, worüber nicht gesprochen wird, was verpönt ist, treibt ihn dabei gar nicht so sehr in die Sechziger, sondern tatsächlich in jene Zeit, die nicht umsonst noch bei jeder Retrowelle und jeder Rückschau höchst stiefmütterlich behandelt wird – jene verdrängten Jahre zwischen Woodstock und Disco, Wassermann und Punk. Fisher schreibt: »Die Gegenkultur der sechziger Jahre ist mittlerweile untrennbar mit ihrer eigenen Simulation verwoben und die Reduktion dieses Jahrzehnts auf ›ikonische‹ Bilder, zu ›Klassikern‹ gewordene Musik und nostalgische Reminiszenzen hat die realen Versprechungen neutralisiert, die damals explodiert sind. Die Aspekte der Gegenkultur, die zur Aneignung geeignet waren, wurden als Vorläufer eines ›neuen Geistes des Kapitalismus‹ neuen Zwecken zugeführt, wahrend diejenigen, die inkompatibel zu einer Welt der Überarbeitung waren, verteufelt wurden. Deshalb ist es in vielerlei Hinsicht wichtiger, die Siebziger neu zu denken, als erneut die sechziger Jahre zu besuchen.«

Damit will Fisher nicht allein an die erkämpften Lohnerhöhungen und Sozialleistungen, die wilden spontanen Streiks und die geplanten Generalstreiks erinnern, die insbesondere Großbritannien in den Siebzigern erschütterten; er meint hier vor allem die subjektive Triebkraft, die diese höchst selbstbewusste Anspruchshaltung möglich gemacht hatte. Sie bestand darin, dass der proletarische wie kleinbürgerliche Nachwuchs sehr spezifische subkulturelle Haltungen einnahm: namentlich Glam und sein illegitimer älterer Bruder Prog wären hier zu nennen – der aber, seit die musikalische Austerität der ökonomischen auf dem Fuß folgte, so verpönt ist, dass nicht einmal Fisher so recht davon sprechen möchte. Wäre es ihm vergönnt gewesen, an »Acid Communism« weiterzuschreiben, hätte er mit dem ausgeschlagenen popkulturellen Erbe der siebziger Jahre sicher noch mehr zu tun bekommen, referiert Fisher doch stark auf die italienische Autonomia-Bewegung, in der Rockmusik und proletarische Rebellion sich damals wohl am engsten verbanden: Deren authentischster Ausdruck war der heute weitestgehend vergessene rock progressivo italiano, der in Opulenz, Bizarrität, Experimentierlust, Verspultheit, Anmaßung, Dekadenz und Exravaganz alle Grenzen sprengte, die bislang für populäre Musik galten.

Solche eher aristokratischen Attribute und der proletarische Wunsch, nicht mehr Proletarier sein zu müssen, tendierten schon immer stark zueinander. Fisher erinnert daran in aller Deutlichkeit: »Jeder weiß, dass zwischen der Arbeiterklasse und der Aristokratie immer schon eine tiefe Affinität bestand.« Im selben Atemzug verwirft er auch gleich die modische Austerität der allgegenwärtigen Funktionskleidung. Fisher fragt frech: »Was ist die Abneigung gegen Kosmetik und gute Kleidung anderes als ein Angriff auf die Arbeiterklasse?« – eine berechtigte Frage, stellen doch ästhetische Abstumpfung und Funktionalismus jenes schönheitstrunkene Moment der Rebellion still, das einst aus der Welt so viel herausholen wollte, dass es sich überhaupt erst lohnt, sich um sie zu streiten.

Fishers so zwingende wie deprimierende Deutung der zurückliegenden Jahrzehnte – »die letzten 40 Jahre wurden darauf verwandt, das ›Gespenst einer Welt, die frei sein könnte‹, auszutreiben und das Entstehen eines ›Roten Reichtums‹ zu verhindern« – ist völlig orginär und schreibt nicht bestehende philosophische Zeitdiagnosen fort. Mark Fisher hat sie quasi ex negativo entwickelt, aus dem sensiblen Erspüren des Abwesenden, des fortwährenden Phantomschmerzes, den die Amputationen des Neoliberalismus immer noch und immer wieder hervorrufen, und der Sehnsucht, die sogar die Sprache verloren hat, um sich noch ausdrücken zu können. Dieser Sehnsucht wenigstens wieder ein Grundvokabular gegeben zu haben, ist Fishers große Errungenschaft. Seine »Gespenster« sind denn auch im Gegensatz zu denen Derridas (»Marx’ Gespenster«, 1993), bei dem Fisher sich einst die Metapher geborgt hatte, echte Heimsuchungen. Derridas Gespenster sind im Vergleich nur Mummenschanz, sieht er doch in neuen sozialen Bewegungen den alten Kommunismus nur im neuen Gewande am Werk, sozusagen in Bettlaken gehüllt. Historische Verluste, so schwer, dass sie an die Substanz dessen gehen, was man bisher als Subjekt ansah, kommen hier nicht vor. Fishers Heimsuchungen hingegen sind gespenstisch echt, so sehr, dass der Leser, der sich auf »k-punk« einlässt, sie garantiert nicht wird vergessen können.

Mark Fisher: k-punk. Ausgewählte Schriften (2004–2016). Aus dem Englischen von Robert Zwarg und mit einem Vorwort von Simon Reynolds. Edition Tiamat, Berlin 2020, 624 Seiten, 32 Euro